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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Vom Flur her hörte man Stimmen und Kichern. Eine Weile saßen die beiden schweigend da und betrachteten einander.
    Es war Nicolas, der das Schweigen brach. Er erkannte, dass die Ereignisse der vergangenen Monate ihm Angst gemacht, ihm zugesetzt und ihn verwirrt hatten. Aber Gilberts Erzählung hatte ihm vieles klarer werden lassen. Er war dankbar für Gilberts Aufrichtigkeit. Jetzt wollte er jedoch hören, was es war, das ihm gehörte und auf das Voltaire es abgesehen hatte.
NACH GROßVATERS BEERDIGUNG
    Das Rezept für das ewige Leben war in unserem Besitz. Dennoch wurde unsere Familie, wie durch eine Ironie des Schicksals, nach Großvaters Beerdigung von mehreren Todesfällen getroffen.
    Onkel Carlo hatte gerade seine Schicht angetreten, es war am Tag nach seiner Rückkehr nach Wien, als ein Lastwagenfahrer die Kontrolle über sein mit Damenunterwäsche beladenes Fahrzeug verlor, einen Volvo Viking 385, der an der Kreuzung Mariahilfer Straße und Esterházygasse umstürzte. Die Polizei war rasch zur Stelle und sperrte die umliegenden Straßen für den Verkehr, weil mehrere andere Autos bei dem Unfall beschädigt worden waren. Es dauerte über vier Stunden, bis zwei Kranwagen den Volvo wieder aufgerichtet hatten. Erst da entdeckte man den Straßenfeger, der von dem achtzehn Tonnen schweren Lastwagen erdrückt worden war.
    Großmutter, die nie eine Schwäche für ihren Jüngsten gehabt hatte, konnte sich beim Eintreffen der Todesnachricht nicht die spontane Bemerkung verkneifen: »Typisch Carlo. Der hat ja sein Leben lang die Finger nicht von BHs und Höschen lassen können.«
    Zwei Monate später war es wieder so weit, dass wir zu Hause alle Spiegel verhängten und uns schwarz kleideten. Diesmal war Tante Ilona von hinnen geschieden. Sie hatte sich einer Routineoperation unterziehen müssen. Sasha und ich erfuhren nie, worum es genau ging. Aber Großmutter deutete an, es habe sich um einen Eingriff im Unterleib gehandelt, den die meisten Frauen in einem gewissen Alter machen lassen mussten. Die Operation verlief reibungslos, aber die Patientin wachte nicht mehr auf. Die Obduktion ergab, dass der Arzt allzu großzügig mit dem Narkosemittel umgegangen war. Ich weiß noch, dass Großmutter traurig und wütend war. Nicht über den Tod ihrer Tochter, sondern weil es nicht möglich war, den Narkosearzt zu belangen. Seine Frau war nämlich eine Nichte der Sekretärin des Gesundheitsministers. »Das ist der real existierende Sozialismus«, konstatierte Großmutter.
    Dann kam das Schlimmste. Der Junge, mit dem ich durch das Mysterium der Zwillingsschaft verbunden war, starb eines schrecklichen Todes. Und alles war meine Schuld. Aber ich bekam sofort meine Strafe: Seit dem Verlust Sashas habe ich das deprimierende Gefühl, einsam, wehrlos und verletzbar durch allerhand Trivialitäten zu sein, die auf mich einstürmen und mich bedrohen und gegen die ich mich nicht zur Wehr setzen kann. Aber im Augenblick schaffe ich es nicht, von diesem mehr als dreißig Jahre später immer noch so schmerzlichen, herzzerreißenden und traurigen Verlust zu reden, der sich in allem spiegelt, was ich im Rest meines verkorksten und verfahrenen Lebens getan habe.
WIE KEINE ANDEREN BÜCHER
    Gilbert erzählte, sein Herr habe ihm kurz nach Nicolas’ Geburt großes Vertrauen erwiesen, indem er ihm ein Buch zeigte, mit dem sich kein anderes messen konnte, ein Buch, das die Mysterien und die Weisheit der ganzen Welt enthielt und von dem Philosophen Benjamin Spinoza verfasst war.
    »Das Buch besteht«, erklärte Gilbert, »aus tausendundeiner Seite und heißt
Das Elixier der Unsterblichkeit
. Dein Vater bat mich, falls ihm etwas zustoßen sollte, das Buch zu verstecken und es dir zu übergeben, wenn du dreizehn Jahre alt geworden wärst. Er meinte, du seiest sein einziger denkbarer Nachfolger und natürlicher Erbe.«
    »Warum gerade dreizehn Jahre alt?«, fragte Nicolas.
    »Nach der Bar-Mizwa, wenn man dreizehn Jahre alt geworden ist, gilt ein jüdischer Junge als Mann und ist verantwortlich für sein Handeln.«
    »Du meinst, dass Voltaire es auf dieses Buch abgesehen hat?«
    »Ja. Kurz vor dem tragischen Unglück, das zum Tod deines Vaters geführt hat, enthüllte er Voltaire die Existenz des Buches. Der Philosoph weiß, dass er in diesem Buch Antwort auf alle großen Lebensfragen finden kann. Seit der Beerdigung deines Vaters hat er deiner Mutter zugesetzt und verlangt, dass sie ihm das Buch zeigen solle. Aber sie wusste nichts von dessen Existenz,

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