Das Elixier der Unsterblichkeit
Gedanken tief versunken war in das Buch, das er von seinem Vater geerbt und das tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Die Lehren, die er aus der Lektüre, die meistens nachts stattfand, zog, verwandelte er in eigene Texte.
Obwohl Maximilien und Nicolas die meisten ihrer Gedanken teilten, hütete doch jeder ein Geheimnis.
Maximilien war ein glänzender Redner, der alle mit seinen eleganten Formulierungen fesselte, und er prahlte gern damit, dass es keinen Wettbewerb im Aufsatzschreiben gebe, den er nicht gewinnen würde. Doch die Wahrheit sah anders aus. Die Gabe der Rede schien in seinem Fall als eine Kompensation der Natur für seine Unfähigkeit zu fungieren, sich schriftlich ungezwungen auszudrücken. Er tat alles, um dieses Geheimnis zu hüten, und oft fürchtete er, entlarvt zu werden.
Alles wurde anders, als Nicolas ins Haus Charrier kam. Zunächst mochte Maximilien den neuen Jungen nicht, denn er war für seinen Geschmack viel zu weich. Doch an dem Tag, als er entdeckte, dass Nicolas die Gabe des Schreibens besaß, begann er, ihn mit anderen Augen zu sehen. Ein Instinkt sagte ihm, dass er Nicolas benutzen könnte. Er hatte recht.
Mit Nicolas verhielt es sich genau umgekehrt. Obwohl er viele Jahre lang im Kirchenchor gesungen hatte und vor Zuhörerscharen aufgetreten war, spürte er eine lähmende Angst, wenn er vor anderen Menschen stand und reden sollte. Dann versagte seine Stimme, der Schweiß brach ihm aus und er brachte kein Wort heraus. Er war von seinen Erfahrungen in der Klosterschule geprägt, wo er acht Jahre lang von Lehrern wie von Klassenkameraden ausgelacht worden war. Er zweifelte an seiner Rednerfähigkeit und glaubte, das Schicksal habe ihm eine glänzende stilistische Ader zur Verfügung gestellt, weil es seine Berufung im Leben sei, sich schriftlich auszudrücken. Er war Maximilien dankbar, der verständnisvoll war und, um Nicolas’ Qualen zu lindern, Texte vorzulesen pflegte, die dieser geschrieben hatte, und so tat, als wären es seine eigenen.
Und Nicolas’ Geheimnis, das er nie mit jemandem teilte? Das war
Das Elixier der Unsterblichkeit
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LUDWIG XVI.
Als der neue König im Jahr 1774 den Thron bestieg, schrieb Rektor Charrier am Lycée Louis-le-Grand einen Aufsatzwettbewerb aus. Das Thema war eine Huldigung Ludwigs XVI.
Das Ereignis, das auf den Wettbewerb folgte, besiegelte nicht nur das Schicksal des Königs, sondern ganz Europas. Ich wurde wütend, als mein Großonkel mir und Sasha von dieser Episode aus der Geschichte Frankreichs erzählte. Nicht wütend auf meinen Großonkel, sondern auf den König. An jenem Tag wurde die Grundlage meiner lebenslangen antiroyalistischen Haltung gelegt.
Der Version zufolge, die wir zu hören bekamen, war Nicolas nicht besonders gut auf den König zu sprechen. Es war Eloise, die ihm erzählt hatte, dass Ludwig XVI., der die Jagd liebte, besonders auf Rotwild, jeden Herbst die Wälder in der Nähe ihrer Heimatstadt Pau besuchte, wo die prächtigsten Hirsche des Landes zu finden waren. In seiner Entourage befanden sich stets einige pompöse Aristokraten, die in der Gegend für ihr schweinisches Verhalten berüchtigt waren.
Ständig betrunken, vergriffen sie sich an Frauen und verwüsteten alles, was ihnen in die Quere kam, wobei sie einander grobe Scherze zuriefen. In einem Jahr hatte ein betrunkener Graf einem zwölfjährigen Mädchen, das sich weigerte, für ihn die Beine zu spreizen, die Kehle durchgeschnitten und den Körper im Wald zurückgelassen. Ohne das geringste Zeichen von Reue hatte er später sein Verbrechen zugegeben. In seinem Hochmut hatte Ludwig die Angelegenheit verharmlost. Er warf einen verächtlichen Blick auf die Eltern des Mädchens und hielt es für angemessen, dass sie den Grafen für seine Demütigung entschädigten. Es war eine deutliche Demonstration dessen, wo Macht und Recht stehen, wenn Arm gegen Reich gestellt wird. Nach diesem Vorfall, sagte Eloise, waren die Menschen in der Stadt der Meinung, der König sollte mit einem Seil um die Füße aufgehängt werden, damit das blaue Blut ein bisschen in seinem Gehirn zirkulieren könnte. Nachdem sie das Wort König in den Mund genommen hatte, spuckte sie dreimal auf den Boden.
Nicolas verspürte wenig Lust, auf einen solchen Mann eine Huldigungsrede zu verfassen. Er blätterte in Benjamin Spinozas Buch, um sich Inspiration zu holen. Er fand sogleich eine Passage, die sein Interesse auf sich zog. Dann schrieb er über die Notwendigkeit umfassender gesellschaftlicher
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