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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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erlitten hatte, sei es, weil man nicht die Kraft hatte, an die albtraumhafte Vergangenheit zu rühren, sei es, weil man uns Kinder mit derartigen Schilderungen verschonen wollte.
    Onkel Carlo blieb drei Tage bei uns. Er bat Vater um Nachsicht, weil er so schnell wieder an seine Arbeit müsse. Aufgrund der tief reichenden Vertrautheit mit der Weltwirtschaft, die er unter Beweis stellte, malten wir uns aus, dass er einen hohen Posten bei einer internationalen Bank hätte. Aber als er wieder abgereist war, ließ sich Großmutter beinahe schadenfroh darüber aus, dass Carlo in Wien weder eine Frau zum Heiraten noch eine bessere Arbeit als die des Straßenfegers gefunden hatte.
    Trotz der kurzen Zeit, die wir mit ihm verbrachten, lernten Sasha und ich eine Menge über den Krieg an der Ostfront. Da er Jude war, wurde Onkel Carlo als Arbeitssoldat einberufen und im kalten Winter 1942/1943 an den Don geschickt, um unter dem Einsatz seines Lebens zu prüfen, ob Brücken hielten und Felder vermint waren. Die große Schlacht dauerte nur drei Tage. Der Himmel war fast die ganze Zeit schwarz. Die stolze ungarische Armee wurde vollständig vernichtet. Wundersamerweise gelang es Onkel Carlo, mit dem Leben davonzukommen und nach vier Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückzukehren. Für vierzigtausend jüdische Arbeitssoldaten hatte das Schicksal andere Pläne. Ihre Spuren verlieren sich an den Ufern des Don.
    Sasha fragte Onkel Carlo, was er jetzt empfinde, wenn er an den Krieg denke. Er antwortete nicht direkt, sondern zog seine Brille aus einem abgewetzten Lederfutteral und setzte sie auf. Wir fanden, dass sie seine Augen viel größer und trauriger aussehen ließ. Nichts Besonderes, antwortete er. Überhaupt nichts Besonderes. Nur einen schwachen, dumpfen Kopfschmerz. Sonst nichts.
DER DESERTEUR
    Gilbert erzählte Nicolas, wie er im Zuchthaus gesessen und nicht gewusst hatte, dass Krieg ausgebrochen war. Eines Morgens wurde seine Zellentür geöffnet, man steckte ihn in eine viel zu große Soldatenuniform und in zu kleine Lederstiefel und gab ihm ein Gewehr, doch keine Munition. Dann wurde er mit den anderen Gefangenen in den Norden nach Belgien geschickt. Niemand sagte ihnen, wie gefährlich es war, gegen die Armee des Herzogs von Cumberland in den Krieg zu ziehen. Über den Himmel von Fontenoy strichen Scharen von Zugvögeln. Einige Tage später, nachdem er allzu viele Kameraden auf dem Feld hatte verbluten sehen, sagte er sich, dass die österreichische Thronfolge ihn nichts anging und er mit den Männern in den feindlichen Truppen keine Rechnungen zu begleichen hatte. Er beschloss zu desertieren.
    Er wartete eine mondlose Nacht ab. Als alle eingeschlafen waren, schlich er sich aus dem Zelt. Plötzlich stand ihm ein Sergeant im Weg und hinderte ihn an der Flucht. Er stieß den Mann um, der nach hinten fiel, mit dem Kopf auf einem Stein aufschlug und auf der Stelle tot war. Darin lag sein Verbrechen: Er wollte nach Hause, und ein Sergeant stand ihm im Weg.
    Das Leben als Deserteur und gesuchter Mörder war, wie sich zeigte, schwerer zu ertragen als der Krieg. Er schlief im Wald zwischen Trunkenbolden und verlebten Huren. Oft wachte er aus finsteren Albträumen auf, in denen sein Vater anklagend seinen Namen brüllte. Einmal wurde er fast von einer Räuberbande erschlagen, nachdem er deren Anführer ins Gehege gekommen war. Ein andermal wäre er beinahe in einer Scheune verbrannt. Eines Wintermorgens erwachte er halb erfroren in einem zugigen Kellerraum und hatte genug. Er konnte nicht mehr. Es war sinnlos. Ein Fluch lastete auf ihm. Es gab nur einen Ausweg. Er wollte sterben, nichts als sterben.
    Da begegnete er Hector Spinoza.
    »Dein Vater rettete nicht nur mein Leben«, sagte Gilbert. »Er gab mir alles, was ich bis dahin vermisst hatte. Vertrauen. Wärme. Arbeit. Einen anständigen Lohn. Ein Zuhause. Freundschaft. Er gab meinem Leben einen Sinn und machte mich zu dem, der ich heute bin. Ich habe Hector Spinoza alles zu verdanken.«
    Nicolas dachte an seinen Vater. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz, als er an die Bibliothek dachte, in der sein Vater zu sitzen pflegte. Er erinnerte sich auch an die böse und impulsive Gewalt in den Ohrfeigen seines Vaters. Ihm fiel wieder ein, dass ihm in jener Zeit die Fürsorge, die sein Vater ihm zeigte, wenn er ihn verprügelte, lieber gewesen war als die freundliche, aber gleichgültige Art seiner Mutter.
    Die Sonne erfüllte das Zimmer mit einem warmen Licht.

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