Das Elixier der Unsterblichkeit
seiner Linken. Die Frauen weinten. Das war kein ungewöhnlicher Anblick. Rudolf hatte oft beobachtet, wie diese Frauen mit Hilfe ihrer Tränen ihren Willen bei seinem Vater durchgesetzt hatten. Er war fest entschlossen, sich weder von der Mutter noch von den Schwestern lenken zu lassen.
»Vater ist tot. Ich übernehme die Verantwortung für die Familie. Alle Entscheidungen, große wie kleine, werden von mir getroffen. Ab heute gelten in diesem Haus meine Regeln. Unter keinen Umständen darf ich vor zwölf Uhr gestört werden. Lasst mich jetzt allein. Ihr habt schon genug von meiner Zeit in Anspruch genommen. Ich habe vieles zu bedenken.«
Die Mutter und die Schwestern senkten den Blick. Ausnahmsweise schien Bischof Kaulbach empört zu sein, was an seinem zusammengepressten Kiefer abzulesen war. Der neue Schlossherr aber lächelte triumphierend.
DAS SCHWARZE SCHAF
Rudolf war das schwarze Schaf der Familie Biederstern. Schon bei seiner Geburt war der Junge rücksichtslos aufgetreten. Er half nämlich der Mutter nicht bei ihren Anstrengungen und ließ nicht erkennen, dass er den Mutterleib verlassen wollte, um in diese Welt einzutreten. Der damalige Hausarzt Doktor Leuterbach war gezwungen, eine Zange zu Hilfe zu nehmen. Als der kleine Bursche ans Tageslicht gezogen wurde, präsentierte er sich sogleich als Schreihals. Er war ein gesundes und wohlgeformtes Kind, auch wenn die Zange an dem kleinen Schädel ein paar deutliche Spuren hinterlassen hatte. Er wurde umgehend einer wartenden Amme an die Brust gelegt.
Später sprachen Clementina und Heindrich manchmal darüber, dass Doktor Leuterbach mit seiner Zange eine unvorteilhafte Wirkung auf Rudolfs Kopf gehabt haben könnte.
Der gedrungene und rotwangige Rudolf hatte weder die entwaffnende Höflichkeit seines Vaters noch die natürliche Weichheit seiner Mutter geerbt. Er war ein anstrengendes Kind. Das Schreien war schon in seiner frühen Kindheit sein besonders hervorstechender Zug. Konflikte löste er stets mit Gewalt, und er ertrug keinen Widerspruch. Er hatte oft Wutanfälle und versetzte alle Diener auf dem Schloss in Angst und Schrecken.
Die Aufgabe, einen gebildeten jungen Mann aus ihm zu machen, wurde Lehrern übertragen, die aus dem Ausland anreisten. Nach zwei Jahren waren fünf auf eigenen Wunsch in ihre Heimat zurückgekehrt. Keiner ertrug Rudolfs vulkanisches Temperament. Der letzte Hauslehrer, ein magerer Schweizer mit einem Buckel, vermied es, dem Vater in die Augen zu blicken, während er ihm in verschlungenen Wendungen zu verstehen gab, er glaube nicht, dass der Junge eine große Zukunft vor sich habe. Danach bat er um die Erlaubnis, das Schloss zu verlassen.
Beide Elternteile waren erleichtert, als Rudolf in Hauptmann von Knapps berühmtes Internat in Fürstenbrunn bei Salzburg geschickt wurde. Hier erhielten die Söhne der vornehmsten Adelsfamilien des Landes eine Ausbildung, bevor sie in eine Militärakademie eintraten. Rudolf knüpfte auf dem Internat keine freundschaftlichen Bande. Er war häufig in Prügeleien verwickelt und stieß alle ab. Er wollte von den Mitschülern gesehen und respektiert werden und zeigte sich in ihrer Mitte noch wilder und gewalttätiger, als er im Grunde war. Die Kinder nannten ihn den Verrückten.
Als Rudolf zum fünften Mal einen Schulkameraden misshandelt hatte, schrieb der Rektor Heindrich einen Brief, in dem er erklärte, Fürstenbrunn sei nicht mehr der richtige Ort für den Jungen.
In den folgenden Jahren wurde er in drei weitere Internate geschickt. Das Resultat war stets das gleiche.
EINEN MANN AUS DEM JUNGEN MACHEN
Die Biedersterns waren eine alte Kriegerfamilie. Ihr Familienwappen zeigte einen Löwen und eine Krone; das Motto lautete: »Stärke im Dienst des Kaisers«. So stand Rudolfs Zukunft zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion. Als Achtzehnjähriger trat er in die Militärakademie in Wien ein. Clementina meinte, die Uniform kleide ihren Sohn gut. Und Heindrich war überzeugt, die Armee mit ihrer strengen Disziplin und ihren Generälen, Obersten und Hauptleuten würde ihn zum Mann machen und ihm für sein weiteres Leben einen festen Grund unter den Füßen geben.
Doch es dauerte nur drei Monate, bis Rudolf einen beachtlichen Skandal bewirkt hatte und – zu seiner großen Freude – von der Militärakademie verwiesen wurde.
Für die Eltern war es ein Schock. Clementina war verzweifelt. Heindrich suchte Rat bei seinem Cousin August, der, obwohl er nicht wenige Sünden und Laster im Gepäck führte,
Weitere Kostenlose Bücher