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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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beiden ihr gegenüber eine so reservierte Haltung angenommen hatten. Einige Augenblicke lang herrschte bedrückendes Schweigen.
    Adrette Kellner im Frack servierten goldbraune Petits Fours zum Tee. Das hob die Stimmung ein wenig.
    Herr von Wiedersack ergriff das Wort und richtete einen heftigen Angriff gegen Napoleon, nannte ihn einen Plebejer mit dem unerträglichen Anspruch, Europa zu regieren. Er unterstrich, dass der kleine Mann augenscheinlich seine Kindheit in einer Gasse in Ajaccio vollkommen vergessen habe. »Bonaparte est merde«, sagte er, um seine Geisteskultur zu demonstrieren, aber damit war allem Anschein nach sein französischer Wortschatz auch schon erschöpft. »Sein Triumph ist wie eine Seifenblase, und er selbst ist flüchtiger als der Regenbogen, der sich darin spiegelt«, lachte Wiedersack zufrieden. Er sagte, er hege nicht den geringsten Zweifel daran, dass der Siegesmarsch des französischen Heeres durch Europa bald zum Stillstand komme. Daraufhin verlieh er seiner Bewunderung für preußische Soldaten Ausdruck, gesunde und starke Männer, die nur das Beste für ihr Volk erstrebten. »Sie wissen nicht, was für Soldaten wir haben«, sagte er an Chiara gewandt, »Sie haben sie nicht Unter den Linden marschieren sehen.« Dann setzte er zu einer langen Darstellung der Größe Preußens an. Der Monolog wurde abgerundet durch einen Dank an Amschel, der König Friedrich Wilhelm III. Geld geliehen hatte, um das Heer aufzubauen. »Glaubt mir, Herr Rothschild, alle in Berlin sind froh, dass es Euch gelungen ist, während der Napoleonischen Kriege ein solch großes Vermögen anzusammeln, das Ihr so großzügig an uns verliehen habt.«
    Chiara teilte zwar durchaus Wiedersacks Meinung über Napoleon, doch hinter seinem Räsonnement, das nach ihrer Ansicht von Einfalt zeugte, erkannte sie das Muster eines engstirnigen Nationalismus, das ihr nicht gefiel. Sie verstand, dass sein Ausfall gegen den Kaiser eher gegen sie als gegen den Korsen gerichtet war, da er sie offenbar als eine Frau aus einem feindlichen Land betrachtete, oder gar als eine Spionin. Sie hatte eine Replik auf der Zunge, die ausdrückte, wie furchtbar sie es fand, dass so viele junge Männer im Krieg sterben müssten, hielt es aber für klüger zu schweigen. Sie war sich nicht sicher, ob sie in der Lage sein würde, eine Diskussion auf Deutsch zu führen. Sie senkte den Blick und sank tief in ihren Sessel.
    Amschel registrierte sofort, dass ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt war, und wechselte schnell das Thema. Er sprach von den schönen Salons des Hotels.
    In einem Ton der Selbstzufriedenheit konstatierte von Wiedersack, es müsse in diesem ehrwürdigen Hotel auch schon zu jener Zeit so ausgesehen haben, als Paracelsus als Badearzt wirkte und denen, die hierherkamen, um Linderung ihrer Leiden zu erfahren, große Mengen des mineralreichen Quellwassers verordnete.
    Amschel hörte ihm mit höflichem Interesse zu, Frau von Wiedersack mit Bewunderung. Chiara hingegen musste sich zusammenreißen, um nicht zu erkennen zu geben, wie schlecht unterrichtet von Wiedersack war. Sie hätte am liebsten gesagt, Paracelsus habe 1535 in Bad Ragaz gewirkt, während das Hotel mehr als zweihundert Jahre später erbaut worden sei. Doch sie unterließ es. Die Unterwerfung der Klugheit unter die Dummheit, dachte sie, ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man am mondänen Gesellschaftsleben teilnehmen will.
    Die jungen Leute am Tisch – Gerard, Guido und Desirée – waren dazu erzogen, im Beisein von Erwachsenen zu schweigen, es sei denn, sie wurden direkt angesprochen.
    Guido saß neben Desirée und schielte vorsichtig zu ihr hin, um einen Blick auf die unerwartet schöne Erscheinung der Sechzehnjährigen zu erhaschen. Sie hatte langes blondes Haar und herausfordernde, sinnliche Lippen, und ihre Augen strahlten eine Melancholie aus, die dem Gesicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Ihre Taille war schmal und die Büste – die in den kommenden Jahren eine der Attraktionen der Berliner Gesellschaft darstellen sollte – auffallend üppig. Als ihr die Serviette auf den Boden fiel, streckten sich beide danach. Die Spitzen ihrer Zeigefinger streiften sich für eine Sekunde. Guidos Körper durchfuhr ein elektrischer Stoß. Die Erinnerung an diese Berührung blieb noch mehrere Jahre lang lebendig. Es war das Erlebnis, das ihn während der gesamten Pubertät einem himmlischen Gefühl am nächsten brachte.
GUIDO UND ANTON
    Die Freundschaft zwischen Guido und Anton

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