Das Elixier der Unsterblichkeit
war dankbar, dass Chiara und die Jungen in ihr Leben getreten waren. Sie wusste nur zu gut, wie einsam man sich in dem großen Haus fühlen konnte. Deshalb gab sie ihre Zustimmung, dass ihr Mann, sie selbst und Chiara, die sie als eine Schwester betrachtete und nicht als Rivalin, im selben Bett schliefen.
Mein Großonkel deutete einmal an, dass Chiara, Amschel und Angela durch das Band der Liebe miteinander vereint waren, nicht nur im Leben, sondern auch im Tod.
Sie ruhen im selben Grab.
CHIARA
Das Haus der Rotschilds war riesig – mit unzähligen Salons und Schlafräumen, geheimen Winkeln und Ecken – und nach Chiaras Geschmack viel zu steif eingerichtet. Sie machte sich wenig aus den großen Ölgemälden in prunkvollen Goldrahmen, die überall im Hause hingen. Sie zeigten Motive mit den schönsten Szenen, die die Alpen zu bieten hatten: mächtige Bergketten, schneebedeckte Gipfel, fruchtbare Täler, dramatische Wolkenformationen, und die Sonne schien zwischen den Wolken hindurch. Mit etwas Phantasie konnte man Schweizer Kühe von den Leinwänden muhen hören. Die Gemälde deprimierten sie. Beim besten Willen konnte sie nicht verstehen, was Amschel, der sich in jeder Hinsicht zum Originellen hingezogen fühlte, bewogen hatte, sie zu kaufen und aufzuhängen. Doch er erklärte ihr, die Gemälde seien ein Erbe seines Vaters, des Begründers der Familienbank. Er habe sein Leben lang versucht, sich von allem zu distanzieren, was ihn daran erinnerte, woher er kam: aus der engen »Judengasse«, dem Ghetto, in dem Frankfurts Juden vom Sonnenuntergang bis zum Morgen sowie an allen Sonntagen und christlichen Feiertagen eingeschlossen waren.
Es war nicht zu übersehen, dass sich Chiara in Frankfurt nicht wohl fühlte. Häufig klagte sie, dass alle Deutschen steif und formell seien und ihr das Gefühl gäben, hier nirgends zu Hause zu sein, die Stadt sei grau und hässlich, sie friere ununterbrochen, da der Winter nie enden wolle und die Sonne erst im Juli wärme, nicht schon im April wie in Rom.
In ihrer Geburtsstadt seien die Menschen warmherziger, die Straßen schöner und die Luft sei gesünder. Sie sprach mit unwiderstehlicher Autorität, die dazu führte, dass niemand etwas einzuwenden wagte. Doch hinter ihrem Rücken lachten viele, sobald sie in vollem Ernst behauptete, wenn man einen Strohhalm in den Main werfe, würde er sofort sinken, während auf dem blauen Wasser des Tiber sogar Blei oben schwimme.
Chiara verriet nie, warum sie – nachdem sie 1786 Nicolas Spinoza geheiratet hatte und nach Paris gezogen war – niemals nach Rom zurückgekehrt war.
EIN HIMMLISCHES GEFÜHL
Hotel Quellenhof in Bad Ragaz. Napoleons Kanonen dröhnten in Preußen, Österreich und Polen, doch im Schweizer Kanton St. Gallen war alles ruhig. Der Krieg schien sehr weit entfernt. Amschel Rothschild verbrachte regelmäßig die Weihnachtszeit in diesem kleinen Kurort, um fern vom Lärm der Welt sein Rheuma behandeln zu lassen. Im Dezember 1808 fuhr er zum ersten Mal mit Chiara und ihren Söhnen dorthin.
Im Foyer des Hotels stieß Amschel auf einen Bekannten aus Berlin, Anton von Wiedersack, einen trockenen kleinen Kerl, der seine großspurige Aristokratenseele hinter dunklen Brillengläsern und untadeligen Krawatten zu verbergen suchte. Die Herren tauschten Höflichkeitsbekundungen und allgemeine Phrasen über die düsteren Zeiten aus. Sie beschlossen, sich gemeinsam mit ihren Familien zum Nachmittagstee zu treffen.
Die Luft war warm und parfümiert in dem großen Salon. Die Gäste waren gut gekleidet, wirkten aber müde und gelangweilt, wie es sich in einem reichen Milieu mit traditionsschwerer Atmosphäre schickte.
Amschel stellte Chiara und ihre Söhne seinen Bekannten vor. Herr von Wiedersack erhob sich und grüßte höflich, verhielt sich aber spürbar reserviert, als er hörte, dass Rothschilds Begleiterin und die Jungen schlecht Deutsch sprachen, mit starkem französischen Akzent. Sofort waren sie in seinen Augen weniger wert. Frau von Wiedersack wand sich unangenehm berührt auf ihrem Stuhl, als sie die ausländische Frau begrüßte, die aus dem Nirgendwo aufgetaucht war. Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Wir hatten gehofft, dieses Jahr Ihre Frau hier zu treffen, lieber Bankier.« Die Tochter Desirée verbarg ein Gähnen.
Amschel lächelte über das, was er bei anderen Gelegenheiten als Unverschämtheit gewertet hätte. Chiara betrachtete das Paar von Wiedersack, während sie herauszufinden suchte, warum die
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