Das Elixier der Unsterblichkeit
alle anderen Romane nannte er Spinnereien, geschrieben von Schurken, die in der Welt nach oben wollten. Mit Chiaras Buch verhielt es sich anders. Es war das Abschiedsgeschenk seiner langjährigen Geliebten. Er wollte wissen, was darin stand.
Goya schlug den Roman an einer beliebigen Stelle auf und begann zu lesen, nicht ohne zu gähnen, bis er zu dem Abschnitt kam, der schilderte, wie der eiskalte Revolutionsführer seinen besten Freund der Guillotine ausliefert. Mit bedrückendem Detailreichtum wird hier beschrieben, wie der Kopf des zum Tode Verurteilten vom Körper getrennt wird und in einen Wäschekorb fällt, während seine Frau, die ihr Brautkleid angezogen hat, nur wenige Meter entfernt steht und bis zur letzten Sekunde darauf hofft, dass er durch seinen Freund begnadigt wird. Die Episode ist erfüllt von quälendem Schrecken, heftigem Abscheu und bodenloser Resignation. Fasziniert las er weiter. Erst achtzehn Stunden später legte er den umfangreichen Roman aus der Hand. Er war zutiefst ergriffen. Drei Tage lang vermochte er weder zu essen noch zu trinken oder zu schlafen und wurde von bösen Visionen heimgesucht. Er sah abgeschlagene Köpfe, aus denen Kaskaden von Blut spritzten. Am vierten Tag erfüllte ihn eine unerwartete Euphorie. Er griff nach dem breitesten Pinsel und einer Tube mit schwarzer Ölfarbe. Er blickte sich suchend nach einer Leinwand um, die groß genug war. Als er keine fand, ging er mit raschen Schritten ins Esszimmer, nahm die Gemälde, die dort hingen, herunter, und begann, die weiß gekalkte Wand zu bemalen. Dies war die Einleitung der schwarzen Periode in seinem künstlerischen Werk.
Das fertige Bild stellt ein gigantisches Monster dar, das soeben den Kopf des nackten Männerkörpers verspeist hat, den es in den Händen hält. Goya betitelte es nach Chiaras Roman, den er – trotz der Schilderung menschlicher Ohnmacht – nicht als niederschmetternd, sondern eher als befreiend empfand. Um zu kennzeichnen, dass das Wandgemälde seine eigene Interpretation der Französischen Revolution war, verwendete er den römischen Namen Saturn anstelle des griechischen Chronos, der die Zeit bezeichnet.
Saturno devorando a un hijo
(Saturn verschlingt seinen Sohn) ist eine der bedeutendsten Arbeiten des Künstlers.
DER WEG NACH FRANKFURT
Der Debütroman führte letztlich auch dazu, dass Amschel Rothschild in Chiaras Leben trat. Sie reiste nach Freiburg, auf Einladung der Fürstin Karen von Hohenkrampen, die regelmäßig gebildete Menschen in ihrem Haus versammelte, um Fragen der Zeit zu diskutieren. Chiara war stolz, eine Schriftstellerin zu sein. Stolz darauf, dass das Buch auch im Ausland Interesse geweckt hatte.
Dies war das erste Mal, dass sie gebeten wurde, vor Publikum ein paar Worte über das Buch zu sagen, doch sie war keineswegs nervös, und nichts verriet ihre angeborene Schüchternheit im Umgang mit den mondänen Menschen im Salon. Freundliche und neugierige Prinzessinnen und Baronessen umgaben sie, und zu ihrer Verwunderung hatten die meisten das Buch gelesen. Im Gewimmel der Menschen fiel ihr Blick auf einen beeindruckenden Mann, der sie unverwandt ansah. Sie war angeregt durch das aristokratische Milieu, vor allem durch das ungewohnte Gefühl, im Zentrum einer eleganten Veranstaltung zu stehen.
In ihren Memoiren beschreibt sie diesen Abend, als wäre sie durch einen dunklen Tunnel ins strahlende Tageslicht getreten.
Chiara sprach eingehend über den Hintergrund des Romans und darüber, auf welche Weise Nicolas’ Schicksal für ihre Sicht des Lebens ausschlaggebend geworden war. Sie gestand freimütig, dass eine Schriftstellerin auch immer eine heimliche Wunde habe. Als sie spürte, dass die Stimmung düster wurde und einige Frauen Tränen in den Augen hatten, schloss sie ihre Rede, indem sie erklärte, trotz leidvoller Erfahrungen und Niederlagen betrachte sie das Leben als ein Fest. Die Menschen klatschten begeistert.
Als der Applaus verebbt war, erhob sich ein Mann, um eine Frage zu stellen. Es war derselbe, der ihr schon zuvor aufgefallen war. Auch während ihrer Rede hatte er sie diskret betrachtet. Er wollte von ihr hören, welche Eigenschaft nach ihrer Meinung für einen Schriftsteller die wichtigste sei.
Sie antwortete: »Einen Blick für die Gemeinsamkeiten zwischen allen Menschen zu haben und einen Blick für die Unterschiede.«
Später am Abend stellte die Fürstin Chiara diesem Mann vor, Amschel Meyer Rothschild, der aus Frankfurt gekommen war, nur um die
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