Das Elixier der Unsterblichkeit
Luiza zusammengeführt habe. Sie war nach Budapest gereist, um ihre Schwester, ein Zuhause und eine Familie zu finden. Rachel fand sie nie. Doch alles andere, was sie gesucht hatte, fand sie bei Luiza.
Mirjams Bett schirmte Luiza durch einen an der Decke befestigten dünnen, dunklen Vorhang von den Nachbarn ab. Dort, auf knapp sechs Quadratmetern, sollte Mirjam leben, zusammen mit ihrer Tochter Sara (die meine Großmutter werden sollte), für mehr als ein Viertel ihres Lebens.
DIE FREILASSUNG
Ich werde später mehr über Mirjam und ihre Tochter Sara erzählen. Jetzt drängt sich eine andere Geschichte in meinen Kopf.
Adi wurde fünfzig. Ganz Deutschland bereitete sich darauf vor, Führers Geburtstag zu feiern. Man plante das Fest des Jahrhunderts, größer als die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. In der Woche vor besagtem Tage – dem 20. April 1939 – bekam er einen Vorgeschmack darauf, was er sich von diesem Volk erwarten konnte, das ihn über alles auf der Welt liebte. Er hielt sich zu einem Blitzbesuch in Frankfurt auf. Hakenkreuze segelten auf die Stadt nieder. Fünfzigtausend treue Parteianhänger, die sich im Waldstadion zusammengedrängt hatten, sahen am Himmel, wie ein kreisendes Flugzeug hakenkreuzgeschmückte Papierfähnchen abwarf. Die Heil-Rufe hallten wider, als der Führer seinen Platz auf der Ehrentribüne einnahm. Seine Rede war kurz und prägnant. Eine Viertelstunde lang huldigte er dem deutschen Volk, den tapferen Männern und Frauen, die furchtlos bereit waren, ihr Leben für das Vaterland zu opfern. Das war alles. Der stürmische Jubel des Menschenmeers wollte kein Ende nehmen. Die Menschen weinten vor Glück. Dann verließ der Führer das Stadion, denn weitere Begegnungen mit dem deutschen Volk warteten auf ihn.
Die Idee stammte von Mathäus Frombichler. Die Freunde befanden sich auf dem Berghof, dem privaten Wohnsitz des Führers bei Berchtesgaden, nicht weit entfernt von der Region, die das kampflustige Oberkommando des Dritten Reiches gute vier Monate später in einen neuen Weltkrieg hineinziehen sollte.
Es war ein ereignisloser Vormittag bei klarem Himmel. Von den großen Fenstern aus konnte man im Norden bis nach Salzburg schauen. In der Küche herrschte eine spürbare Melancholie. Frombichler hackte Zwiebeln und bereitete das Mittagessen vor, Salade Niçoise. Adi machte sich griesgrämig die Fingernägel mit einem Küchenmesser sauber. Er sagte, ihm graue vor dem Geburtstag, denn es falle ihm schwer, sich damit auszusöhnen, dass er älter werde. Er legte das Messer weg und ließ die Hand zu seinem Glied wandern. Seiner unzufriedenen Miene nach zu urteilen, war es klein und schlaff. Er räumte ein, dass er fast vergessen habe, was ein erfülltes Liebesleben sei, denn Eva sei trocken wie Zunder und völlig desinteressiert. Alles, was er von ihr bekomme, sei ein Gutenachtkuss auf die Stirn. Das bedeute nicht, versicherte Frombichler, dass ihre Liebe erkaltet sei. Adi seufzte resigniert.
Zwei junge Soldaten hielten Wache an der Küchentür. Sie konnten nicht umhin, die Worte des Führers zu hören, und waren ebenso bleich wie die Baguette, die der Koch zum Mittag aufschnitt. Beschämt sahen sie zu Boden.
Unter dem Esstisch döste Eva Brauns Lieblingsschäferhund Fritz und ließ einen lauten Furz fahren. Daraufhin mussten Adi und Frombichler grinsen.
Adi wechselte das Thema und beklagte sich über die unerwartet heftigen Reaktionen der Umwelt auf seine Annektierung der Tschechoslowakei. Kein Staatsmann außer diesem Kasper Mussolini verstehe ihn.
Frombichler zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Adi, du solltest ein paar bekannte Gefangene aus Dachau freilassen. Viele im Ausland haben ihr Missfallen darüber zum Ausdruck gebracht, dass Schriftsteller und bekannte Persönlichkeiten dort als Gefangene gehalten werden. Lass einige aus humanitären Gründen zur Geburtstagsfeier frei. Das wird die Kritik gegen dich abmildern.«
»Das geht nicht«, antwortete Adi. »Wir können solchen kriminellen Abschaum nicht freilassen, nur weil sich ein paar liberale Parlamentarier in London darüber aufregen und Theater machen. Das wäre ein Fehler, ein großer Fehler.«
»Aber ein notwendiger Fehler, Adi. Denk mal nach. Ich brauche dir das nicht zu erklären. Dachau ist kein gewöhnliches Gefängnis. Keiner, der dort einsitzt, ist nach geltendem Recht verurteilt worden. Das schadet deinem und Deutschlands Ruf. Liberale Politiker in London können sich kulturelle Größen nicht in gestreiften
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