Das Elixier der Unsterblichkeit
erinnern, wie unerträglich heiß es an diesem Tag gewesen war. Sie wanderte stundenlang in der brütenden Hitze herum, während der Schweiß unter ihrem fest gebundenen schwarzen Kopftuch hervortropfte.
Keiner, den sie nach dem Weg fragte, gab eine klare Antwort, und sie fühlte sich immer erschöpfter, unwohler, verlorener.
Dass sie ausgehungert war, merkte sie erst, als sie zu einem großen Markt mit Gemüseständen, Fleischgeschäften und Speiserestaurants kam. Sie blieb stehen, um Atem zu holen. Sie spürte, wie ihr Herz klopfte und ihre Brust sich hob. Die Nase registrierte die verschiedensten Düfte: Fett und Bratschmalz von einem Stand, wo in Bratpfannen Gerichte gedünstet wurden, verschwitzte Körper, angenehme Gerüche von Obst und Gemüse. Ein appetitliches Sortiment an Verlockungen, die auf dem Markt angeboten wurden, auch wenn sie wusste, dass der Großteil des Essens nicht koscher war. Das Wasser lief ihr im Munde zusammen, und sie betrachtete mit großen Augen einen dicken Schlachter, der seinen Beruf zu einer Kunst erhoben hatte und mit dem scharf geschliffenen Messer elegant ein langes Fleischstück in schön geschnittene Scheiben verwandelte.
Mirjam wanderte weiter kreuz und quer durch die Stadt. An einer Straßenecke hustete ihr ein Kutschgaul direkt ins Gesicht, und der Kutscher brüllte sie an, dass sie sich dem Pferd nicht auf diese Weise nähern solle. Sie bekam weiche Knie vor Schreck und eilte weiter.
Plötzlich strömte ihr Abfallgeruch entgegen. Sie befand sich in einem hässlichen Stadtteil, verschmutzt, mit heruntergekommenen Fassaden. Die Menschen sahen ärmlich aus und waren merkwürdig blass.
In einer schmalen Gasse kreuzte ein kleines Mädchen mit einem fremdartigen Gesicht ihren Weg. Das Kind lächelte ein einfältiges, aber seliges Lächeln, ähnlich dem eines andächtigen Pilgers, der nach einer langen Wanderung die Pforten des Himmelreichs vor sich sieht. Mirjam ergriff ein Unbehagen und sie erstarrte, als hätte sie den Teufel gesehen. Zu Hause in Chertnow war sie die Nachbarin eines geistesschwachen Jungen gewesen, den alle in der Stadt mit freundlicher Herablassung als eine gutartige, wenn auch zurückgebliebene Person betrachteten. Hingegen war ihr noch nie jemand wie dieses Mädchen begegnet. Heute würde man sagen, sie habe ein Kind mit Downsyndrom gesehen, doch diesen Begriff gab es in Mirjams Vorstellungswelt nicht.
Mit beiden Händen umfasste das Mädchen Mirjams Hand, zart, als wäre sie aus Porzellan. Die leichte Berührung ließ Mirjam erzittern. Das Mädchen sah aus, als hütete es ein Geheimnis, und flüsterte etwas mit fast unhörbarer Stimme. Sie zeigte nach oben, zu den Tauben auf dem Hausdach.
Mirjam betrachtete diese Begebenheit als schlechtes Omen und bekam Angst um ihr ungeborenes Kind. Sie hatte schon mit der Muttermilch eingetrichtert bekommen, dass selbst die flüchtigste Begegnung mit Fremden von abweichendem Aussehen zu Missbildungen des Kindes im Mutterleib führen könnte. Sie zog ihre Hand erschrocken zurück und eilte mit langen Schritten weiter. Als sie sich umdrehte, stand das Mädchen noch an derselben Stelle und lächelte, während es mal Mirjam, mal den Tauben zuwinkte.
Die Müdigkeit wurde unerträglich. Mirjams Körper fühlte sich schwer an, als hätte sie Blei in den Adern. Durstig und ausgelaugt, wie sie war, wurde ihr schwindelig. Sie spürte, dass die heftigen Strudel der Stadt sie hinabziehen würden. Um nicht zu fallen, setzte sie sich auf die Bordsteinkante. Ihre Augen waren voller Tränen. Wenige Meter entfernt, an einer Straßenecke, stand eine Frau an einem einfachen Stand und verkaufte Gemüse. Sie hatte wohl erkannt, in welch elendem Zustand sich Mirjam befand, denn sie kam ihr zu Hilfe und reichte ihr ein Glas Wasser. Es schmeckte köstlich, doch Mirjam konnte sich nicht mehr bedanken. Sie spürte, wie all ihre Kräfte schwanden, und verlor das Bewusstsein.
IN ANDERTHALB ZIMMERN
Im Traum war Mirjam in eine vergangene Phase ihres Lebens in Chertnow zurückgekehrt und erlebte erneut eine der Ängste ihrer Kindheit, die Angst davor, ihr Vater würde sie an den Zöpfen ziehen. Diese Angst hörte erst auf, als ein Nachbarjunge ihr die Zöpfe unmotiviert und mit Augen voller Bosheit abschnitt. Es gab einen großen Aufruhr in der sonst so friedlichen Stadt, doch für Mirjam begann eine neue Lebensphase.
Jetzt lag sie in einem fremden Bett. Das Kissen war hart und roch schlecht. Ihr Rücken tat weh, der Nacken war taub, und sie
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