Das Elixier der Unsterblichkeit
hatte Angst. Sie wusste weder, wo sie sich befand, noch, wie sie hierhergekommen war. Sie konnte sich an nichts erinnern.
Langsam setzte sie sich im Bett auf und sah sich mit müden Augen um. Von den Wänden blätterte der Putz ab, und die alten Möbel waren wacklig und morsch. Auf einer Kommode stand ein siebenarmiger Kerzenleuchter. Außerdem gab es einen Sack Kartoffeln und einen Petroleumkocher. Es roch nach Armut und Schimmel. Wie lange hatte sie geschlafen?
Die Gemüsehändlerin kam ins Zimmer und lächelte ihr zu. »Früher«, sagte sie, »war diese Wohnung viel schöner und sauberer. Aber es ist viel zu teuer geworden, sich eine Putzhilfe zu halten.«
Sie legte den Kopf zur Seite und strahlte mit einem breiten Lächeln. Sie hatte nicht mehr viele Zähne, und Gesicht und Hals waren faltig. Die Augen hingegen waren schön und verbreiteten Freude. Mit sichtbarer Zufriedenheit zählte sie die sieben Menschen auf, die in der Wohnung lebten, auf weniger als dreißig Quadratmetern, in anderthalb Zimmern.
»Das bin ich selbst – ich heiße Luiza. Da ist meine rheumakranke Mutter Erzsi, die furchtbare Angst davor hat, ihre Haare zu verlieren, und in einer Tour weint. Ansonsten sitzt sie meistens in dem verschlissenen Sessel da drüben und denkt an alte Zeiten, während sie auf die kargen Mahlzeiten wartet. Manchmal versucht sie, meinen fünf Kindern zu erzählen, wie es war, als sie jung war in Transsylvanien. Aber die Kinder sind zu klein und haben keine Geduld, um sich anzuhören, was ein alter Mensch zu sagen hat.«
Luizas Herz ging vor Freude über, wenn sie von ihrem Leben erzählte. Im Gegensatz zu Mirjam war sie sehr redegewandt. Sie versicherte, sie habe sich gegen die gnadenlose Ungerechtigkeit des Lebens immun gemacht und besitze eine unerschütterliche Lebenskraft. Nur Selbstmitleid könne sie nicht ertragen. »Man soll nicht klagen und sich anstellen«, erklärte sie, »sondern unverzagt weitermachen und sein Schicksal annehmen, bevor man für immer ins Vergessen eintritt.«
Luiza sagte, sie glaube zwar nicht an Gott, doch jeden Tag danke sie ihrem Schöpfer für ihr gutes Gedächtnis, denn das habe sie in ihren vierzig Jahren auf Erden niemals im Stich gelassen. Sie meinte, es gebe Menschen, die mit einem einzigartigen Erinnerungsvermögen auf die Welt gekommen seien. Sie selbst könne sich im Detail an Dinge erinnern, die lange vor der Zeit geschehen waren, als ihre Eltern sich zum ersten Mal begegneten. Sie erinnere sich an alles, selbst an die kleinste Kleinigkeit, von allen Menschen, die ihr in ihrem Leben begegnet seien. Um ihre einzigartige Fähigkeit unter Beweis zu stellen, begann sie Geschichten von sämtlichen Nachbarn zu erzählen, die im Hause wohnten. Sie räumte bereitwillig ein, traurige Geschichten zu lieben. Je rührseliger, desto besser. Das lasse ihr Herz schneller schlagen.
Die Menschen im Hause, sagte sie, seien mit Hitze und Kälte, Missernte und Hunger, Armut und Krankheiten, allen Plagen des Daseins geschlagen. Sie seien erschöpft, müde, resigniert, manche fast verzehrt von der Hoffnungslosigkeit des Lebens. Und dennoch hätten sie etwas Großes und Respekteinflößendes an sich. Sie seien gute Menschen.
»Nichts ist ganz schwarz oder weiß«, konstatierte Luiza, »aber das Weiße hat oft etwas Schwarzes in sich, und das Schwarze ist oft nur etwas Weißes, das unter die Räder gekommen ist.«
Mirjam hörte zu und überlegte, was sie Kluges antworten könnte. Sie verglich die Geschichten, die Luiza über die Verzweiflung und die Armut der Nachbarn erzählte, mit ihren eigenen Erfahrungen. Das machte sie verlegen. Sie meinte, nicht das Recht zu haben, Luiza mit ihrer kläglichen Lebensgeschichte in Chertnow zu belasten. Also schwieg sie.
EIN NEUES LEBEN
Der Nachmittag war in die Dämmerung übergegangen. Luiza stellte keine Fragen. Mirjam war erleichtert, dass sie nicht zu erklären brauchte, warum sie ihre Heimatstadt verlassen hatte. Luizas bloße Anwesenheit übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. In keiner einzigen Stunde seit dem Abend, an dem sie Jasja begegnet war, hatte sie einen so großen inneren Frieden empfunden. Sie fühlte sich beachtet, denn niemand hatte ihr jemals so viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Plötzlich breitete sich ein Wohlgefühl in ihrem Körper aus, eine Ahnung von Freiheit und Hoffnung nach den schweren Turbulenzen.
Mirjam meinte, auch wenn sie dem niemals Ausdruck verlieh, das Schicksal habe sie angelächelt, indem es sie mit
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