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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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führte.
    An einem Sommertag im Jahre 1897, ich glaube, es war der 10. Juli, erreichte Mirjam den Bahnhof Nyugati, einen architektonischen Tempel im Riesenformat, entworfen vom Franzosen Gustave Eiffel.
    Budapest zählte zu jener Zeit ungefähr eine Million Einwohner und hatte sich als eine von Europas vitalsten Hauptstädten etabliert, schamlos prahlend in ihrem Bestreben, Wien in allem Wesentlichen zu übertreffen, am liebsten auch Paris und London. Hierher, in diese Donauperle, strömten Menschen aus allen Ecken der Doppelmonarchie: ruthenische Bauern, polnische Arbeiter, hoffnungsvolle Juden, tschechische Schuhfabrikanten, österreichische Bankiers, serbische Taschendiebe, kroatische Zuhälter mit gepflegten Bärten, weltmännische Schwindler. Doch auch zahllose Schönheiten in eleganten Kleidern mit geschminkten Wangen und Lippen, auf der Jagd nach distinguierten Herren, die bereit waren, ihre wohlgefüllten Brieftaschen zu öffnen, um ihr Begehren zu befriedigen.
    Die Stadt brodelte vor Aktivität und war von einer kosmopolitischen Aura erfüllt. Nicht ohne Grund wurde die ungarische Hauptstadt »Amerika im Kleinformat« genannt.
    Die Welt schien zur gleichen Zeit neu und alt. In der Luft lagen so viele Möglichkeiten, dass das Atmen schwerfiel. Doch unter dem munter sprudelnden und sorglosen Leben, das die Stadt prägte, verbarg sich eine dunkle Seite. Hier gab es, wie der Schriftsteller Gyula Krúdy es ausdrückte, keine echte Liebe, keinen ehrlichen Mann, keine anständige Frau.
    Der Zug verlangsamte sein Tempo und lief in den Bahnhof ein. Verwirrt und erschöpft, mitten in der großen Hitzewelle des Jahres, beendete Mirjam die erste Reise ihres Lebens. Sie sollte noch eine zweite Reise unternehmen im Laufe ihres langen Lebens, siebenundvierzig Jahre später, dann aber in einem überfüllten Viehwaggon, zurück nach Polen zu einem kleinen Ort, nur ein paar Kilometer entfernt von dem Städtchen, in dem sie geboren war. Der Ort wurde unter seinem deutschen Namen bekannt: Auschwitz.
    Vor ihr lagen nun Jahrzehnte der Einsamkeit und der Entsagung in einem Land voller Vorurteile und Ungerechtigkeit, in einem Land, in dem sie niemals Wurzeln schlagen, wo sie immer eine Fremde bleiben würde.
    Ein kleiner geflochtener Korb fasste all ihre Habseligkeiten. Sie hielt ihn fest mit der rechten Hand, als sie aus dem Zug stieg. Auf dem Bahnsteig traf sie auf ein Menschenmeer, vollkommen überwältigend, mit hunderten von Gesichtern, manche gepflegt und elegant, die meisten jedoch aufgelöst in der Hitze, Jugendliche, Arbeiter, Frauen mit Kindern auf dem Arm, Alte; alle versuchten, sich durchzudrängeln. Sie erstarrte, bekam Angst, denn so viele Menschen hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Genau in dem Moment, als die Menschenmenge sie fast verschluckt hätte, fiel ihr Blick auf einen Zugführer der kaiserlich-königlichen Eisenbahn. Sie wandte sich an ihn und fragte mit zitternder Stimme, wo sich die Synagoge befinde. Budapest war die Stadt, in der alle Deutsch sprachen. Jiddisch hingegen – Mirjams Muttersprache – verstand niemand. Doch der Zugführer war freundlich und hilfsbereit. Nach wiederholten Versuchen, sie zu verstehen, schrieb er eine Adresse auf und zeichnete eine einfache Karte auf seinen Notizblock. Mit dem ausgerissenen Zettel in der Hand ging sie hinaus in den brodelnden Wirbel der Großstadt.
DIE BEGEGNUNG MIT DER METROPOLE
    Die erste Wanderung durch Budapest überwältigte Mirjam. Die Stadt brauste, dröhnte und zischte wie eine Dampflokomotive. Händler lockten, Zeitungsverkäufer schrien, Menschenmassen wurden hektisch auf den breiten Boulevards hin und her geschoben. Die riesigen palastähnlichen Häuser mit dem prunkvollen Überfluss an Dekorationen und Verzierungen, Atlasfiguren und Nischen machten sie benommen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Hier fehlte es an nichts, alles gab es im Überfluss: Juweliere, Schneidereien, Modistinnen, Frisöre, Schönheitssalons, Konditoreien, Kaffeehäuser, Luxushotels und Theater – eine phantastische Einrichtung übertrumpfte die nächste. Vor jedem Geschäft reckte sie den Hals und machte große Augen.
    Die Menschen sahen gepflegt und elegant aus. Die Herren in ihren flotten Anzügen, die Frauen in ihren farbenfrohen Kleidern. Doch es irritierte sie, dass die schönen Frauen auf eine Weise ihre Hüften schwangen, die die Leute in Chertnow als unanständig betrachtet hätten.
    Viele Jahrzehnte später sollte sich Mirjam noch immer daran

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