Das Elixier der Unsterblichkeit
Gefangenenanzügen vorstellen. Sie wollen sie in diskreten, perfekt geschneiderten Anzügen sehen. Zieh ihnen einen dunklen Anzug an, lass einen Fotografen ein paar Fotos machen, wenn sie Dachau verlassen, und schicke sie mit einem Schiff nach England. Das wird alle glücklich machen.«
»Du redest wie ein Dummkopf, Mathäus. Diese Männer sind Deutschlands schlimmste Feinde. Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Zigeuner, Gewerkschaftler …«
»Lass fünfzig von ihnen frei, als eine symbolische Geste. Du wirst keinen von ihnen vermissen. Es gibt haufenweise Gefangene in deutschen Gefängnissen«, sagte Frombichler hartnäckig.
Nach dem Mittagessen bat Adi Hermann Göring, eine Liste der Gefangenen in Dachau zu beschaffen.
Zwei dicke Bände kamen am nächsten Morgen an, mit über siebzehntausend Namen. Adi, mit einer miserablen Laune aufgewacht, wurde rasend vor Wut. Er brüllte, kleinliche Bürokraten würden Deutschland in einer Flut von Papieren ertränken. Doch Frombichler beruhigte ihn. Es sei kein Problem, fünfzig Namen zu finden. Er reichte Adi den einen Band und nahm selbst den anderen. Sie begannen ziellos zu blättern.
»Bruno Bettelheim, Psychologe und Schriftsteller … Hermann Broch, Schriftsteller … Alfred Cohen, Zahnarzt … Wegen eines Zahnarztes wird in London ja wohl niemand eine Träne vergießen. Der Jude soll bleiben, wo er ist«, beschloss Adi.
Hermann Göring betrachtete Hitler mit fast religiöser Ehrfurcht und notierte sorgfältig die Namen derer, die freigelassen werden sollten.
Frombichlers Blick fiel auf einen bekannten Namen. Sein Herz begann schneller zu klopfen. Das kann nicht wahr sein, dachte er und räusperte sich. »Franz Scharf, Kabarettist«, sagte er laut.
Früh am nächsten Morgen kam ein Aufseher und holte meinen Großonkel aus seiner Baracke. Der Aufseher war ein kleiner Mann, etwas in die Jahre gekommen, mit einem großen Gewehr. Er sagte, Scharf solle zum Sturmbannführer August Behrendsdorff kommen. Wegen einer Sonderbehandlung oder so, fügte er undeutlich hinzu. Mein Großonkel bekam Angst, seine Hände begannen zu zittern, sein Mund wurde trocken. Der Österreicher Behrendsdorff liebte es, ausgewählten Gefangenen Rücken und Gesäß blutig zu peitschen, bevor er ihnen grobe Gegenstände in den After schob, um sie dann zu vergewaltigen. Alle wussten das. Keines der Opfer hatte sich allerdings beklagt, denn die behrendsdorffsche Behandlung wurde immer mit einem Genickschuss beendet.
Es hatte in der Nacht geregnet, und der Morgenhimmel war von bedrohlichen Wolken verdunkelt. Mein Großonkel spürte, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte. Sein Herz raste. Er ging ohne Eile. Hinter ihm trabte der Soldat, ohne etwas zu sagen. Der lehmige Weg führte durch eine Einzäunung mit Stacheldraht in den Bereich, in dem das Büro des Lagerkommandanten lag.
Der Sturmbannführer lächelte freundlich, rieb sich die Hände und bot Kaffee an. Es war Ersatzkaffee und schmeckte scheußlich. Doch Behrendsdorff schien der Geschmack nicht zu stören. »Wissen Sie, weshalb Sie hier sind, Herr Scharf?«, fragte er.
Ohne auf eine Antwort zu warten, erklärte er, der Führer habe ihn in seiner großen Güte begnadigt. Er dürfe duschen und sich rasieren, würde neue Kleider bekommen und mit einigen anderen Gefangenen zum Bahnhof nach München fahren. Der erste Zug nach Budapest ginge um sechs Uhr am Nachmittag.
»Sind Sie sehr enttäuscht, Herr Scharf, dass wir Sie nach Hause zu ihrer Familie schicken?« Behrendsdorff lachte trocken und nahm einen Schluck Kaffee. »Wir erwarten, dass Sie aufhören, herabsetzend über unseren Führer zu sprechen. Erzählen Sie stattdessen von der deutschen Gastfreundschaft hier in Dachau. Sie haben bei uns Essen und ein Dach über dem Kopf bekommen, ohne dass wir von Ihnen eine Gegenleistung gefordert hätten.«
Mein Großonkel saß stumm, in Gedanken versunken. Er traute den Worten des Österreichers nicht. Er dachte, es gehöre zu Behrendsdorffs widerlicher Folter, das Opfer glauben zu lassen, es dürfe nach Hause. Doch ein paar Stunden später saß er unendlich erleichtert im Zug nach Budapest, nicht ahnend, wer dafür gesorgt hatte, dass sein Schicksal eine so günstige Wendung genommen hatte.
DIE RETTUNGSAKTION DES KOCHS
Marek Halter, französischer Schriftsteller, aufgewachsen im Warschauer Ghetto, hat kürzlich einen Dokumentarfilm gedreht. Soweit ich mich erinnere, lautet der Titel »Retter in einer dunklen Zeit
« (Tzedek – les justes)
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