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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Furchtbares. Sein Leben blieb in dem Augenblick stehen, als Falk ihm erzählte, was geschehen war. Im Paternoster hatte man eine junge Frau gefunden, die zwischen zwei Etagen ausgestiegen sein musste und offenbar das Gleichgewicht verloren hatte. Jedenfalls sei sie gefallen und erdrückt worden. Ihr Kopf war abgetrennt worden. Allem Anschein nach sei die junge Frau blind, und man habe Grund anzunehmen, es handle sich um Bernhards Frau.
    Ariadne war Bernhards Leben. Ein anderes Leben hatte er nicht. Ein anderes Leben wollte er auch nicht. Wir müssen der Vorsehung danken, dass Bernhard drei Söhne hatte, denn sonst wäre ihm nach Ariadnes Tod möglicherweise nur der Tod geblieben. Doch auch wenn die Gedanken an Ariadne ihn niemals loslassen sollten, so wusste er doch, dass er sich um die Kinder kümmern musste.
    In dem abgewetzten Koffer, den ich von meinem Großvater geerbt habe – in einem wüsten Durcheinander aus Briefen, Tagebüchern aus verschiedenen Jahrhunderten, Geburtsurkunden, Testamenten und anderen historischen Dokumenten, die unsere Familie angehen –, fand ich auch eine vergilbte Fotografie, wahrscheinlich vor dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen, auf der ein Grab mit folgender Goldinschrift auf schwarzem Granit zu sehen ist: »Ariadne – meine Prinzessin – du sahst die Welt mit anderen Augen. Auf ewig vermisst.«
    Auf die Rückseite der Fotografie hatte Großvater mit kleinen Buchstaben geschrieben: »Meine einzige Erinnerung an Mama …«
    Kurz nach der Beerdigung erhielt Bernhard den Bericht des Obduktionsarztes. Daraus ging hervor, dass Ariadne schwanger gewesen war. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als ihm klar wurde, dass Ariadne, die wegen ihrer Blindheit fast nie das Haus verließ und nie im Zeitungsgebäude gewesen war, gekommen sein musste, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen und ihm zu sagen, dass sie ein Kind erwarte.
DIE BESTE KUR
    »Labor omnia vincit.« Das Zitat stamme von dem großen römischen Dichter Vergil, erklärte der Chefredakteur, und es bedeute: Arbeit überwindet alles. Falk betrachtete Bernhard mit dem Mitgefühl, das man einem Freund zeigt, der sich im Leben verirrt hat.
    »Ich muss aufrichtig zu Ihnen sein«, sagte er. »Sie können nicht den ganzen Tag hier in der Redaktion auf und ab gehen und an Ihre verstorbene Frau denken. Das hilft weder Ihnen noch sonst jemandem. Sie bekommen sie nicht zurück. Sie ist tot. Das müssen Sie akzeptieren. Die einzig würdige Art und Weise, ihr Andenken zu ehren, ist das Schreiben. Bei tiefer Trauer ist Arbeit die beste Kur. Wenn Sie wieder zu schreiben beginnen, werden Sie sehen, wie Ihre Seele sich erhebt. Sie werden immer dann, wenn Sie ein nichtssagendes Wort im Text durch ein weniger nichtssagendes ersetzen, ein wenig Mut schöpfen. Sie werden Freude empfinden, wenn Sie in den unendlichen sprachlichen Galaxien den rechten Weg finden.«
    Der Chefredakteur fuhr fort, der Artikel über die Blinden sei die stärkste Beschreibung gewesen, die er jemals über die Situation der Notleidenden in Budapest gelesen habe. Der Text zeuge davon, dass Bernhard zu den wenigen Menschen gehöre, die zum Schreiben geboren seien und die im Leben einen Auftrag hätten: mit Hilfe der Feder für das Wohl der Menschheit zu kämpfen. Er erklärte, er stamme selbst aus einer armen jüdischen Familie, und es gebe nichts, was er lieber wolle, als im Land für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, denn allzu viel in der ungarischen Gesellschaft verstoße gegen seine Prinzipienaus der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er fügte hinzu, dass diese Worte ja gewissermaßen auf Nicolas Spinoza zurückgingen. Bernhard lächelte schwach und nickte.
    »Ihr wahres Erbe kommt von Ihrem Urgroßvater Nicolas«, sagte Falk. »Es besteht darin, bekannte Dinge mit neuen Augen zu sehen und sie zu beschreiben. Wer schreibt, wird zum Zeugen vor dem Gericht der Welt. Durch Ihre Worte geben Sie auch anderen Kraft, sich über ihr Schicksal zu erheben.«
    Falk lehrte Bernhard nicht nur, Sätze zu formen und mit den Worten zu ringen. Er wurde sein Mentor und Lehrmeister. Er unterrichtete ihn in ungarischer Geschichte und ließ ihn eine humanistische Tradition mit Wurzeln entdecken, die bis zu Cicero, Plutarch und Seneca zurückreichten. Er empfahl ihm, Erasmus von Rotterdam und Michel de Montaigne zu lesen. Er trainierte Bernhards Argumentationskunst durch lebendige Diskussionen über Wirtschaft und Politik. Er brachte ihn dazu, eine ästhetische

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