Das Elixier der Unsterblichkeit
Betrachtungen über einige der großen Fragen der Menschheit. Kurz vor der Abreise aus Budapest habe er darin einen Abschnitt über den wahren Geist Israels gelesen, der großen Eindruck auf ihn gemacht habe.
Er erzählte, der Legende zufolge, die Benjamin Spinoza wiedergab, werde jedes einzelne der siebzig Reiche der Erde von einem Engel regiert, den man den Fürsten nennt. Dieser Fürst leite und repräsentiere sein Volk vor dem Thron des Herrn. Nur das Volk Israel habe keinen Engel, da die Juden sich geweigert hätten, eine vermittelnde Instanz im Dialog mit dem Herrn zu akzeptieren und sich einer Herrschermacht unterzuordnen, die nicht von Gott ausgeht. Benjamin Spinoza habe gewarnt vor der Ernennung eines Fürsten, klarer ausgedrückt vor dem Unglück, das ein Volk treffe, das nur sich selbst und seine Eigenart verehre und nur sich selbst gegenüber Verpflichtungen empfinde. Mit dem Geist Israels, betone der Philosoph, solle das jüdische Volk nicht seinen eigenen kollektiven Egoismus verbinden, sondern eine Wahrheit, die jenseits der Nation liege, ein höheres Reich, vor dem die Menschheit verantwortlich sei. Denn sonst würden die Juden unter dem Joch eines Fürsten enden – ob dieser nun ein Mensch, ein Stück Land oder ein Bild sei –, und aus diesem Fürsten werde man einen Götzen erschaffen.
Der Abschnitt handle, führte Bernhard weiter aus, von der Aufgabe der Juden, gegen die Verehrung von Götzen zu kämpfen und die universellen Werte zu verteidigen, doch er könne auch als eine Warnung davor betrachtet werden, einen Nationalstaat zu etablieren, der sich wie alle anderen Nationalstaaten entwickeln würde.
Bernhard sah Herzl erwartungsvoll an. Doch er erkannte, dass er vergebens auf eine Reaktion wartete, denn der Schriftsteller war mehr damit beschäftigt, heiße Blicke zu werfen und offen mit einer eleganten Frau zu flirten, die sich am Nachbartisch niedergelassen hatte, als konzentriert der Erzählung von Benjamins geheimem Buch und Israels Geist zu folgen. Bernhard räusperte sich, um Herzls Aufmerksamkeit einzufangen, und sagte, er sei müde von der langen Reise. Es sei an der Zeit, aufzubrechen. Bevor sie auseinandergingen, verabredeten sie, sich am nächsten Tag zur gleichen Zeit, am selben Ort wiederzutreffen, um den Dialog fortzuführen.
Am nächsten Vormittag verließ Bernhard das Hotel und nahm den Zug zurück nach Budapest.
11.
DER KOMMUNIST
DIE LIEBE
Ich habe bereits erwähnt, dass Großvater in seiner langen Ehe mit Großmutter nur wenige glückliche Stunden erlebte. In seinen Augen war sie eine Frau mit zwei Persönlichkeiten: einer unwiderstehlichen und einer unerträglichen.
Die Sara, der zu widerstehen unmöglich war, strahlte ihn in ihrer bezwingenden Art bei einer Bootsfahrt auf der Donau an einem warmen Tag im Sommer 1918 an; ihr Gesicht leuchtete in jugendlicher Schönheit und kaum unterdrückter Sinnlichkeit, und er verliebte sich auf der Stelle in ihre Augen und in ihren Blick, in ihre nackten, goldbraunen Arme, die das rot gepunktete Kleid sehen ließ, in ihre intensive Präsenz. Seine aufflammende Begierde nährte den Traum, mit dieser Frau das Glück zu erleben. Schon wenige Tage später machte er ihr einen Heiratsantrag, ohne zu wissen, wer sie war oder woher sie kam.
Er entdeckte die unerträgliche Sara einige Monate nach ihrer Hochzeitsnacht, als sie ihm mit freudlosem Gesicht und trauriger Stimme erzählte, sie sei schwanger, doch müsse sie ihm noch ein Geständnis machen. Sie bat um Entschuldigung dafür, es nicht über sich gebracht zu haben, früher davon zu sprechen, vielleicht hätte sie ihm ihr Geheimnis gleich bei ihrer ersten Begegnung anvertrauen sollen: Das einzige, was er von ihr erwarten könne, sei Treue, aber keine wahre Liebe, denn sie liebe einen anderen, einen Mann, der nicht zurückgekehrt sei von der italienischen Front. Damit zerstörte sie etwas in Großvater und sollte für den Rest seines Lebens zu einer unerschöpflichen Quelle von Enttäuschung und Zorn für ihn werden.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich reagiert hätte, wenn die Frau, die ich liebte und die ein Kind von mir erwartete, mir eröffnet hätte, ihr Herz gehöre einem anderen. Derartiges zu erleben ist mir erspart geblieben. Ich habe ja auch nie eine Frau geliebt. Ich war zwar einige Male verliebt, hielt aber immer Abstand, weil ich von Natur aus schüchtern bin. Jedes Mal, wenn ich eine Frau anziehend fand, fühlte ich, wie mir die Wangen brannten, und das war mir so
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