Das Elixier der Unsterblichkeit
eine Handelsware zu verwandeln, und die Schließung der Bordelle in Budapest gefordert hatte, dieses Thema nicht sonderlich schätzte. Er wechselte schnell zum französischen Essen, das er für unübertrefflich hielt. Ein Bœuf Bourguignon, behauptete er mit Überzeugung, bringe tausendmal mehr Lebensenergie hervor als das zähe Wiener Schnitzel. Ein guter Pariser Koch sei der beste Arzt. Darüber lachten sie sehr und gingen dann dazu über, ernstere Fragen zu diskutieren.
Worüber sie in den folgenden Stunden sprachen? Über die Judenverfolgung und über die Möglichkeiten, ihr Einhalt zu gebieten. Herzl führte an, dass die Juden in den letzten zweitausend Jahren in ständigem Schrecken gelebt hätten. Sie seien verfolgt worden, diskriminiert, erniedrigt, verstümmelt und ermordet. Warum? Weil sie überall fremd seien und als Menschen betrachtet würden, die man je nach Gutdünken behandeln könne. Sie hätten kein eigenes Land, das sie beschützen, und keine eigene Flagge, auf die sie stolz sein könnten. Doch mit der Gründung des jüdischen Nationalstaats werde sich die Situation der Juden überall verbessern.
Bernhard sprach von den beiden jahrhundertealten jüdischen Traditionen. Die eine war Masada, benannt nach der uneinnehmbaren Festung, 441 Meter über dem Toten Meer, wo die Juden nach dem Fall Jerusalems im Jahre 73 n. Chr. heldenhaft Widerstand gegen das überlegene römische Heer geleistet hatten. Die jüdischen Kämpfer verteidigten die letzten Reste ihrer besetzten Festung sieben Jahre lang. Da alle Hoffnung verloren war, begingen sie kollektiven Selbstmord als freie Männer, statt als Sklaven zu leben. Den anderen Weg nannte er Jawne, nach dem kleinen Ort, an dem der pragmatische Rabbi Yochanan ben Zakkai eine Schule begründet hatte. Hier wurde das Judentum aus einer Religion, die mit einem Land verknüpft war, mit historischen und heiligen Orten, in einen tragbaren Glauben verwandelt. Er fand in wenigen Büchern Platz und konnte auch außerhalb Israels existieren, da es möglich war, ihn überallhin mitzunehmen. Was das Jawne-Modell kennzeichne, sagte er, seien Wissen, Gelehrtheit, Pragmatismus, ein klares Ja zu einer friedlichen Koexistenz – das einzige, was den Juden auf längere Sicht das Überleben garantieren könne.
Herzl war nicht Bernhards Meinung. Er glaubte, die Vision Jawnes würde verblassen und die geistigen Prinzipien des Judentums seien dazu verurteilt, entstellt zu werden. Dies sei eine Folge des gesellschaftlichen Unrechts, das die Juden zwinge, in einer von Judenhass durchtränkten Welt zu leben. Er betonte, sein Ziel sei nicht, das jüdische Problem zu lösen, indem er ein geistliches Zentrum schaffe, sondern indem der jüdische Staat nach zweitausend Jahren Dornröschenschlaf wiedererschaffen werde. Gleichzeitig hob er hervor, dass der Staat, den er gründen wolle, kein Nationalstaat sei wie alle anderen. Er träume vielmehr von einem Modellstaat, der auf Toleranz und Gleichheit beruhe, auf den Idealen, die Europas Beitrag zur Welt seien, die der gegenwärtige Nationalismus jedoch verleugne.
Bernhard unterbrach ihn und sagte, der große Beitrag der Juden zur Welt sei nicht der Monotheismus, sondern das Gesetz, das Prinzip des Universalismus. Es besage, dass das Gesetz für alle gelte und niemand über dem Gesetz stehe. Ohne dieses Prinzip könne die Demokratie nicht existieren, und die Ideale der Französischen Revolution könnten niemals verwirklicht werden. Die Aufgabe der Juden sei es, das Prinzip des Universalismus zu verteidigen; das sei es, was sie miteinander verbinde, über alle Landesgrenzen und Jahrhunderte des Exils hinweg.
Herzl wandte ein, das Exil sei eine Sackgasse gewesen, in der die Juden Generationen lang umhergeirrt wären und die Orientierung verloren hätten. Viele gläubige Juden hätten ihre Aufgabe, das, was Bernhard die Fahne des Universalismus nenne, hochzuhalten, verwechselt mit der Legende vom auserwählten Volk. Sie glaubten in einem Versuch, ihre hoffnungslose physische Bedrohtheit zu kompensieren, an ihre geistige Überlegenheit.
Bernhard spürte, wie schwer es Herzl fiel, seine Auffassung, das Exil, das Leben in der Diaspora, sei die Voraussetzung für den Beitrag der Juden zur Welt, zu akzeptieren. Deshalb verriet er ihm, dass er von seinem Vater ein Buch des Philosophen Benjamin Spinoza geerbt habe. Dieses sei seit über zweihundert Jahren im Besitz der Familie, und kein Außenstehender habe es jemals lesen dürfen. Das Buch enthalte
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