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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Verbindung mit einigen der großen Gegenwartsschriftsteller einzugehen und sich mitreißen zu lassen von der Vielfalt der Schicksale, die sich in der Dichtkunst spiegelten. Er lehrte ihn, sich in der Welt der Bücher zurechtzufinden.
IM CAFÉ DU MATIGNON
    Sie hatten ein Treffen im Café du Matignon vereinbart, im eleganten Faubourg Saint-Germain. Den Ort hatte Theodor Herzl ausgewählt. Er war seit vier Jahren Korrespondent der Wiener Zeitung Neue Freie Presse in Paris und kannte die Stadt gut, besonders die Viertel, in denen Alfred Dreyfus gewohnt und gearbeitet hatte, bevor er verhaftet wurde. Mit großem Interesse hatte Herzl das Gerichtsverfahren gegen den jüdischen Hauptmann verfolgt. Er stellte sich, ohne zu zögern, hinter die Kampagne, die in Frankreich geführt wurde, um Dreyfus Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
    Es gab kaum etwas, dem Herzl mit größerem Eifer entgegengesehen hätte, als die Begegnung mit Bernhard. Seit zehn Jahren hatten sie die Artikel des jeweils anderen verfolgt und waren Rivalen gewesen um den Königsthron des Journalismus in der Doppelmonarchie. Der eine kam aus Budapest und war als Siebzehnjähriger nach Wien gezogen; der andere war im gleichen Alter von einem Gut etwas außerhalb Wiens aufgebrochen und hatte sich in Budapest niedergelassen. Sie waren eine Art merkwürdiges Zwillingsphänomen, immer mit denselben Fragen und Problemstellungen beschäftigt. Vielleicht wurde Herzl deshalb eine Art Bernhard Spinoza in Wien genannt, und Bernhard bekam manches Mal zu hören, er sei eine Art Theodor Herzl in Budapest. Beide waren bekannt für ihr imponierendes Arbeitspensum und ihre hohen Ideale, was die Bedeutung der journalistischen Arbeit betraf. Sie waren sich ihrer Macht als kritische Meinungsbildende bewusst. Es gab kaum einen anderen Autor, der ebenso heftige Debatten auslösen, derart radikale politische Forderungen stellen und den Machthabern so tiefe Wunden und Schrammen beibringen konnte wie diese beiden. Natürlich nahmen sie einen wichtigen Platz im Bewusstsein der Leser ein.
    Herzl und Bernhard hatten seit vielen Jahren eine lebendige Korrespondenz geführt, waren sich aber nie persönlich begegnet. Die Initiative zu dem Treffen in Paris war von Herzl ausgegangen. Er arbeitete an einem Buch, das er
Der Judenstaat
nannte. Als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus in Europa im Kielwasser der Dreyfus-Affäre plädierte er dafür, dass die Juden einen eigenen Nationalstaat gründen sollten. Er hatte eine Leseprobe an eine Handvoll herausragender jüdischer Kulturpersönlichkeiten in den deutschsprachigen Ländern geschickt. Die Reaktionen waren überwältigend positiv. Die einzige Kritik, mit schwerwiegenden Argumenten, kam aus der Feder von Bernhard. Herzl wollte das Thema unbedingt weiter mit ihm diskutieren, da er überzeugt war, dies werde für seine Arbeit von großem Nutzen sein.
    Bernhard kam an einem strahlenden Vormittag Anfang Mai an der Gare du Nord an. Er schaffte es gerade noch, sein Gepäck im Hotel de l’Europe am Boulevard de Magenta abzusetzen, bevor es Zeit war, zum linken Seine-Ufer aufzubrechen, wo das Treffen stattfinden sollte. Er war sehr gespannt darauf, Herzl zu begegnen. Sobald er das Café du Matignon betreten hatte, erkannte er ihn, obgleich er nicht so aussah, wie Bernhard ihn sich vorgestellt hatte. Er war größer und schmaler. Herzl war kurz zuvor fünfunddreißig Jahre alt geworden, doch er wirkte älter. Mit dem langen, dunklen Bart sah er aus wie ein biblischer Prophet. Statt sich die Hände zu drücken, umarmten sie einander.
    Nachdem sie einige Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, fragte Bernhard, wie es Herzl in der französischen Hauptstadt ergehe. Paris sei die Krone von allem, antwortete Herzl. Er liebe die Schönheit der Stadt, aber der Umgang mit den Franzosen sei nicht immer ganz leicht. Sie seien arrogant, störrisch, faszinierend in ihrer Steifheit, aber auch in ihrer Eleganz, manchmal voller Spiritualität und dennoch vollkommen stupide. Die Pariserinnen seien wunderbar, schön und kokett. Er bekannte lächelnd, dass er sich in fast jede französische Frau verliebe, der er begegne, doch sie seien hoffnungslos unerreichbar für ihn. Deshalb seien die wenigen Minuten des Genusses, die er erlebe, immer erkauft. »Oh, là, là, cher ami«, sagte er, »ich könnte Ihnen viel erzählen über das, was man in Frankreich die Maisons de tolérance nennt.« Er spürte, dass Bernhard, der dagegen protestiert hatte, die Erotik in

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