Das Elixier der Unsterblichkeit
Lebensbedingungen der Blinden wisse. Und er traute seinen Ohren nicht, als er erfuhr, dass die Frau des jungen Mannes blind geboren war. »Ihre Frau!«, rief der Chefredakteur aus und fügte hinzu, dass ein Welpe wie Bernhard doch wohl kaum verheiratet sein könne. Noch erstaunter war er, als Bernhard erklärte, er sei nun wirklich kein Welpe, sondern neunzehn Jahre alt und schon Vater von zwei Söhnen. Dann sei also ein kleines Honorar ein willkommener Beitrag für die Familienkasse, antwortete Falk. Er stellte außerdem in Aussicht, dass Bernhard weitere Artikel publizieren könne, vorausgesetzt sie wären ebenso wohlformuliert und gut recherchiert wie der über den Alltag der Sehbehinderten. Auch dürfe seine bisherige Arbeit bei der Zeitung nicht darunter leiden.
Der Sonntag kam und Bernhards Enttäuschung kannte keine Grenzen, als er die Zeitung in den Händen hielt. Der Artikel stand zwar tatsächlich auf der Titelseite, doch sein Name war falsch geschrieben. Statt Bernhard Spinoza stand dort als Verfasser Bernhard Spiritosa. Er wusste, dass Pester Lloyd als Tageszeitung bekannt war, in der fast keine Satzfehler vorkamen. Deshalb hatte er den Verdacht, jemand in der Redaktion könne aus purer Bosheit seinen Nachnamen geändert haben. Am nächsten Tag ging er zum Redaktionschef und bat um eine Erklärung, wurde jedoch an die Setzerei verwiesen. Dort wurde ihm erklärt, dass der Typograph, der früh am Sonntag den Artikel gesetzt hatte, den Satz mit Bleitypen, in dem Bernhards Name stand, hatte fallen lassen, und als er sie habe wieder zusammensetzen wollen, seien ihm leider einige Buchstaben durcheinandergeraten. Es hätte schlimmer kommen können, stellte der Vorarbeiter der Setzerei stoisch fest.
Bernhard konnte nicht begreifen, wie ein erfahrener Mann so wenig Verständnis dafür aufbringen konnte, wie furchtbar es war, nun mit einem falschen Namen unter dem ersten publizierten Text leben zu müssen.
Der falsch geschriebene Name – das erste Missgeschick dieser Art in der Geschichte der Zeitung – wurde zum Gesprächsthema des Montagvormittags in der Redaktion. Ein aufgeweckter Journalist sagte mit einem listigen Lächeln, die Sache müsse einen geheimen Sinn haben, und behauptete – selbstverständlich ohne um Bernhards Verwandtschaft mit Bento und Benjamin zu wissen –, der Nachname Spiritosa sei passender für den ständig lächelnden jungen Mann als der Name Spinoza, den man nur mit ein paar langweiligen Philosophen in Verbindung bringe.
Von dem Tag an nannten alle im Zeitungshaus Bernhard Spiritosa, was auf Italienisch humorvoll, geistreich und spirituell bedeutet.
Einen Monat später erhielt Bernhard einen Brief von seiner Mutter. Dieses Mal war seine Enttäuschung wenn möglich noch größer. Sie gratulierte ihm zur Publikation seines ersten Artikels. Gleichzeitig brachte sie ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass es ihr endlich gelungen sei, ihren Mann davon zu überzeugen, seinen ehemaligen Schützling, den Finanzier des Pester Lloyd Siegmund Kornfeld, zu bitten, an ein paar Fäden zu ziehen, um die Position ihres Sohnes bei der Zeitung zu verbessern.
DER PATERNOSTER
Ariadne war schon eine geraume Zeit schlechter Stimmung. Normalerweise ließ sie sich, auch wenn sie besonders streitlustig war, nach ein paar Tagen von Bernhards zärtlichen Berührungen erweichen. Dann gab sie ihm, indem sie ihm den Kopf streichelte, zu verstehen, dass die ehelichen Lustbarkeiten wieder beginnen könnten. Wenn sie miteinander schliefen, versöhnten sie sich stets. Doch diesmal waren mehrere Wochen vergangen seit ihrer letzten sinnlichen Versöhnung, und dieser Morgen war der schlimmste seit langem. Ariadne war noch zänkischer als sonst aufgewacht. Sie beklagte sich über ihr Los und bedachte ihn und die Jungen mit den widerwärtigsten Ausdrücken. Als die Kinder zu weinen begannen, warf sie Teller an die Wand und zerbrach eine Fensterscheibe. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie sich beruhigt hatte und Bernard zur Arbeit gehen konnte.
In der Redaktion herrschte meist große Hektik. Bernhard, der nun schon seit ein paar Jahren als Unterredakteur in der Annoncenabteilung arbeitete, kümmerte sich nicht um die ganze Aufregung. Doch an diesem Tag war etwas anders als sonst, sodass auch er unruhig wurde. Er wollte gerade den Raum verlassen, als der Chefredakteur hereinkam. Falk war blass. Nicht nur seine Stimme zitterte, sondern auch seine Hände. Er bat Bernhard, sich zu setzen. Bernhard ahnte etwas
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