Das Elixier der Unsterblichkeit
Viel hing von ihrer jeweiligen Laune ab. Moricz, der in einem Augenblick noch ein süßer kleiner Kerl gewesen war, erschien ihr plötzlich als anspruchsvolles Kind, wenn er sie um mehr zu essen bat. Nathan, den sie dafür schalt, dass er zurückgeblieben sei, verwandelte sich in ein Genie, wenn er mit seinem kleinen Bruder Kalman spielte, sodass sie nachmittags eine Stunde schlafen konnte. Bernhard verstand auch, dass sie eifersüchtig war – nicht weil er untreu gewesen wäre, für ihn existierte keine Frau außer Ariadne. Sie hatte schlicht und einfach eine Veranlagung zur Eifersucht und meinte, Bernhard sei ihr Eigentum. Zweifellos spielte es auch eine Rolle, dass sie zu niemandem außer Bernhard und den Kindern Kontakt hatte, sie besaß weder Freunde noch Verwandte.
PESTER LLOYD
Pester Lloyd war das Flaggschiff der deutschsprachigen Presse in der ungarischen Hauptstadt, eine seriös berichtende Tageszeitung. Das Finanzielle war durch Unterstützung des liberalen Bankiers Siegmund Kornfeld gesichert, der in seiner Jugend Jakobs Schützling in Wien gewesen war und im Alter von sechsundzwanzig Jahren von Albert Rothschild zum Chef der Ungarischen Credit-Anstalt in Budapest ernannt worden war. Die Redaktionslokale der Zeitung und die Druckerei befanden sich in einem Gebäude im nördlichen Teil des eleganten Stadtteils Lipótváros. Der Chefredakteur, der legendäre Miksa Falk, bewegte sich ungezwungen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten. Er war ein Vertrauter der Kaiserin Elisabeth, und selbst Franz Joseph lieh ihm sein Ohr. Falk hatte eine souveräne Fähigkeit, viele Fäden gleichzeitig in der Hand zu halten, und scheute keine Mühe, seine Mitarbeiter in ein gemeinsames Abenteuer hineinzuziehen. Es lag ihm nichts daran, mit seinem Können zu brillieren und sich zum Helden der Zeitung zu machen. Er hörte immer zu, was andere zu sagen hatten, und inspirierte seine Umgebung mit Ideen und Vorschlägen. Er war großzügig mit Lob und zurückhaltend mit Kritik. Er verabscheute Floskeln und den Gebrauch von allzu vielen Adjektiven. Die Furcht vor Adjektiven, so pflegte er zu sagen, ist der Beginn des Stils. Alle Mitarbeiter wussten, was er von ihnen erwartete, deshalb musste er niemals deutlich werden. Der Bart ließ ihn barsch und streng aussehen, doch er war von Natur aus freundlich. Nur die Selbstzufriedenen und Eingebildeten in der Redaktion mussten seine spitzen Kommentare fürchten.
Bernhard begann bei Pester Lloyd als Laufbursche, gleich nach seiner Ankunft in Budapest. Der Lohn reichte kaum für Miete und Nahrung für die Familie. Harte Arbeit war ihm nicht fremd. Er erledigte ebenso gern Aufträge, wie er dabei half, schwere Papierballen zu bewegen. Ihm gefiel die mitreißende, lebendige Aktivität in allen Abteilungen. Er liebte die Nähe zu Druckerschwärze und empfand eine kindliche Begeisterung für den Paternosteraufzug, der die Redaktionen in den verschiedenen Etagen miteinander verband. Es erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit, sich tagtäglich unter gebildeten Männern und Frauen zu bewegen, die für die Rechte der Schwachen in der Gesellschaft eintraten.
Er begann davon zu träumen, irgendwann in der Zukunft seinen eigenen Namen auf der Titelseite der Zeitung gedruckt zu sehen. Eines Tages – in einem Anfall von Größenwahn, wie er selbst meinte – schrieb er einen Text darüber, wie es war, in Budapest blind zu sein. Er wusste, die Chance, dass der Artikel angenommen würde, war nicht größer als die, dass Ariadne sehend würde. Dennoch lieferte er den Text beim diensthabenden Leiter der Inlandsabteilung ab. Mehrere Wochen vergingen, und er hatte die Sache schon fast vergessen, als er eines Morgens ins Büro des Chefredakteurs gerufen wurde. Einen Augenblick lang fürchtete er, eine Strafpredigt zu bekommen oder gar entlassen zu werden wegen einer Unachtsamkeit. Doch Falk begegnete ihm freundlich und bat um Entschuldigung dafür, dass er so lange gebraucht habe, um den Artikel zu lesen. Er fragte, ob Bernhard schon einmal etwas publiziert habe, andernfalls werde er am kommenden Sonntag sein journalistisches Debüt auf der Titelseite von Pester Lloyd erleben, und zwar mit einem Artikel, der nicht nur die hohen Qualitätsanforderungen der Zeitung erfülle, sondern außerdem wichtig sei. Schließlich beleuchte er ein Problem, dessen – soweit er sich erinnern könne – kein Journalist sich jemals angenommen habe. Er fragte, woher Bernhard so viel über die schwierigen
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