Das Elixier der Unsterblichkeit
habe. Er sagte, er sei sicher, in Nathan einen vernünftigen jungen Mann vor sich zu haben, der einen klaren Unterschied mache zwischen Dingen, die er gehört, und Dingen, die er mit eigenen Augen gesehen habe. Deshalb sei er froh, dass sein Lieblingsneffe zu ihm gekommen sei und sie nun die Möglichkeit hätten, sich richtig kennenzulernen.
Nathan verbrachte den ganzen Sommer bei seinem Onkel in Wien. Diese fünf Monate waren die glücklichste Zeit seiner Jugend. Nikolaus und seine Familie lebten ein völlig anderes Leben als das, was er aus Budapest kannte. Sie waren nicht nur unfassbar reich, sie amüsierten sich auch königlich. Sie besaßen Tennisplätze und Schwimmbecken, im Winter fuhren sie Ski in den Alpen, im Sommer segelten sie auf dem Mittelmeer, sie reisten regelmäßig nach Paris, um sich einzukleiden, und gaben mehrmals in der Woche fabelhafte Abendessen mit prominenten Gästen. Sie hatten große Ansprüche und Forderungen ans Leben, was Nathan zunächst irritierte, bis er sich selbst einen Mittelscheitel zulegte, sich in maßgeschneiderte Anzüge kleidete und ihr Dolce Vita zu schätzen lernte. Nikolaus überhäufte ihn mit kostbaren Geschenken, darunter auch die goldene Uhr, die wir als Kinder eines Tages zu erben hofften, und nahm ihn mit in mondäne Salons, wo Nathan jungen Schönheiten aus adligen Familien vorgestellt wurde; in dieser glamourösen Welt wurde sein lebenslanges Interesse für Eleganz und Kleidung geweckt. Es gefiel ihm ausnehmend gut bei der herrschenden Klasse, die sein Vater jahrelang in seinen Artikeln kritisiert hatte. Er betrachtete seinen Onkel als einen großartigen Mann, der in nichts dem Zerrbild ähnelte, das sein Vater von ihm gezeichnet hatte. Vier Jahrzehnte später, als er im Gefängnis der Kommunisten zu verfaulen drohte, konnte es ihm die Schamesröte ins Gesicht treiben, wenn er daran dachte, wie blind er gewesen war. Es dauerte viele Jahre, bis er die Absicht hinter der übertriebenen Großzügigkeit seines falschen Onkels begriff.
MATHEMATIK IN ERLANGEN
Im Herbst nahm Nathan sein Mathematikstudium wieder auf, aber nicht in Budapest. Dorthin wollte er nicht zurückkehren. Seine letzte Erinnerung an die Eötvös-Loránd-Universtät war Emanuel Laskers Gastvorlesung, und er hatte sich eine Bemerkung des Schachweltmeisters gemerkt, dass die wichtigste mathematische Forschung in Deutschland von einer Frau in Erlangen betrieben werde. Ihren Namen hatte Nathan allerdings vergessen. Aber er war begierig, etwas Neues zu beginnen, und schrieb sich deshalb an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität in der idyllisch gelegenen nordbayerischen Kleinstadt ein.
Emmy Noether – Nathan hatte noch nie jemanden wie diese junge Jüdin getroffen. Die Tochter eines bekannten Mathematikers war nur wenige Jahre älter als er. Obwohl es für Frauen in jener Zeit nicht einfach war, zu höheren Studien zugelassen zu werden, gelang es ihr mit kaum fünfundzwanzig Jahren, eine bahnbrechende Doktorarbeit zu schreiben. Albert Einstein bezog sich in weiten Teilen auf Emmys Analysen, als er seine allgemeine Relativitätstheorie entwickelte, und würdigte ihre Verdienste. Spezialisten der Teilchenphysik hielten sie für ein Genie, und in der Welt der Mathematik galt sie mehrere Jahrzehnte lang als die größte Hoffnung.
Als Nathan viele Jahre später an Emmy zurückdachte, sagte er sich, dass er sich garantiert in sie verliebt hätte, wenn sie nicht so wenig um ihr Äußeres gegeben hätte und als Frau so wenig attraktiv gewesen wäre – kurzsichtig, mit großer Nase, platten Brüsten und einem aufgesteckten Haarknoten. Schon bei ihrer ersten Begegnung spürte er die unerhörte Kraft, die sie ausstrahlte, eine Kraft, die die Gegner der Lehrberechtigung von Frauen an den Universitäten erbeben ließ und gestandene Professoren dazu brachte, sich in ihrer Gegenwart unsicher zu fühlen. Doch die Studenten wussten ihre Vorlesungen zu schätzen, die sie sieben Jahre lang unentgeltlich hielt, weil Frauen offiziell an deutschen Universitäten nicht unterrichten durften.
Auch wenn Emmy und Nathan nicht füreinander bestimmt waren, entwickelte sich zwischen ihnen eine Freundschaft, die sich immer mehr vertiefte. In den drei Jahren, die sie auf dem Gebiet der Invariantentheorie zusammenarbeiteten, richtete er seine Hoffnung auf wegweisenden Rat auch in vielen Lebensfragen auf sie. Er war überzeugt, dass sie nicht nur auf dem Feld der modernen Mathematik überragend sei.
Die Mathematik
Weitere Kostenlose Bücher