Das Elixier der Unsterblichkeit
anderer rang die Hände, als sie im Detail die Diskussionen wiedergaben, die Kalmans Reise zur Flugschau vorausgegangen waren. Bevor Bernhard sich in den Zug nach Brescia setzte, ging er noch zur Polizei, um seinen Sohn als vermisst zu melden.
In Brescia unterhielt er sich lange mit dem Direktor des Hotels, in dem Kalman hatte wohnen wollen. Aber nichts deutete darauf hin, dass der junge Mann dort je angekommen war. Er fragte die Angestellten in jedem Hotel und jeder Trattoria des Stadtzentrums, die jedoch nur wiederholten, was er schon oft gehört hatte und noch viele Male hören sollte: Keiner erinnerte sich, Kalman gesehen oder gesprochen zu haben. Auch der Besuch bei der Polizei ergab nichts Neues. Kommissar Bussoli erwies sich als die Liebenswürdigkeit in Person und erzählte mit fast übertriebener Höflichkeit, dass zehntausende von Menschen die Flugvorführung im September besucht hätten. Es sei eine geordnete Veranstaltung gewesen, die ohne jeden Zwischenfall verlaufen sei. Er könne sich vorstellen, dass ein junger Hecht – ein solcher sei Kalman doch wohl gewesen – von Amors Pfeilen getroffen wurde, als er im Zug einer dunklen Schönheit gegenübersaß, dass er der schönen Signorina gefolgt sei, als sie irgendwo ausgestiegen sei, und jetzt, ohne der Umwelt einen Gedanken zu widmen, die Früchte seiner Eroberung genieße. Er sehe voraus, dass der verlorene Sohn irgendwann wieder auftauchen würde und der Vater sich auf ein liebevolles Wiedersehen freuen könne.
Die Theorie des Polizeikommissars, Kalman habe sich ganz einfach verliebt und den Kopf verloren, beruhigte Bernhard nicht. Eher im Gegenteil. Bussolis Worte verursachten ihm einen bitteren Geschmack im Mund. Nathan war wegen einer Haushälterin im Zorn aus dem Haus gelaufen und hatte sich von ihm abgewandt. Aber Kalman war nicht wie sein Bruder. Er würde nie verschwinden, ohne sich zu melden.
DAS KENOTAPH
Auch im Jahr nach Kalmans Verschwinden gab Bernhard nicht die Hoffnung auf, ihn zu finden. Er drehte jeden Stein um und zog an unzähligen Fäden, ohne Ergebnis. Die Suche nach seinem Sohn verschlang den Großteil seiner Zeit und er alterte schon früh; der energiegeladene Journalist wurde ein müder alter Mann. Er veröffentlichte fast nichts mehr im Pester Lloyd, und es fiel ihm immer schwerer, mit seiner Zeit Schritt zu halten. Er verlor sein früher so waches Interesse für dunkle Intrigen in der Gesellschaft und die politische Entwicklung in der Doppelmonarchie, obwohl letztere beunruhigender war denn je, wurden doch der Nationalismus täglich stärker und die Forderungen von Separatisten immer lauter. Er wurde sentimental – was früher nicht seine Art gewesen war –, verspürte Ohnmacht und versank häufig in melancholischen Stimmungen. Es schmerzte ihn unsäglich, den Kontakt mit all seinen Kindern verloren zu haben. Über seinen in die Irre gegangenen Sohn Moricz hatte er zuletzt gehört, er befinde sich irgendwo jenseits des Atlantiks, und die Polizei in Chicago fahnde wegen schweren Betrugs nach ihm. Nathan studierte Mathematik an der Universität Erlangen, das immerhin wusste er, doch die unzähligen Briefe, die er ihm geschrieben hatte, kamen alle ungeöffnet zurück. Was Kalman betraf, so verspürte er eine schleichende, aber fast greifbare Angst, ihn nie wiederzusehen.
Bernhard suchte Trost in Benjamin Spinozas Buch
Das Elixier der Unsterblichkeit
. Er hatte es schon viele Male gelesen, aber nie vollständig. Früher hatte er wenig Interesse dafür aufgebracht, sich in die Kapitel zu vertiefen, die von der Geschichte seiner Familie handelten, der der Philosoph teilweise mehrere Jahrhunderte vorgegriffen hatte. In schlaflosen Nächten konnte er Stimmen aus der Vergangenheit rufen hören, das Gemurmel und die Seufzer der Enttäuschung seiner Vorfahren über die Grausamkeit des Lebens. Erst jetzt erkannte er, welch reichen Schatz an Liebe, Hingabe, Glauben an Gott und menschliche Werte er verloren hatte, indem er seiner Familie und der Vergangenheit, der Welt, die für die Familie Spinoza alles bedeutete, den Rücken gekehrt hatte.
In Benjamins Beschreibung des besessenen Schriftstellers, der so davon in Anspruch genommen ist, die Welt zu verbessern, dass er seine Nächsten um sich her vergisst, erkannte er sich selbst – und das war schmerzlich. Eine Zeitlang versuchte er, der Bedeutung des Blutes des Prinzen Biederstern und Arabella Brauns in den Adern seiner Kinder auf die Spur zu kommen. Nicht ohne eine gewisse
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