Das Elixier der Unsterblichkeit
die Stärke genommen hatte, das Buch zu verstecken und sich nicht zu verraten.
SOZIALISMUS UND LIEBESBOOTE
Es dürfte keine Übertreibung sein zu behaupten, dass Nathan erst durch Moricz’ Agieren begann, sich in
Das Elixier der Unsterblichkeit
zu vertiefen. Die verzauberte Welt des Buches, seine Subtilität, die genialen Analysen, die schöne Darstellung und nicht zuletzt die großartigen Abenteuer beeindruckten ihn stark. Als er die Geschichte seiner Familie las, erfüllte ihn Stolz darüber, dass sein Nachname über Jahrhunderte hinweg von Männern getragen worden war, die, oft ohne sich dessen bewusst zu sein, einen nicht unwesentlichen Teil von Gottes großem Plan ausmachten und Bedeutung für die Entwicklung Europas gehabt hatten. Aber er runzelte auch oft die Stirn, wenn ihm nicht wirklich klar wurde, was seine Vorväter gefühlt und wie sie reagiert hatten, wie Genuss und Glück, die Nähe und der Zusammenhalt der Familie, wie Pflichten und Erfolge, Träume und fehlgeschlagene Hoffnungen, wie ständige Bedrohung und Trauer sie beeinflusst hatten.
Nathan suchte nach Orientierung in einer Welt, die vom Triumph der Gewalt geprägt war: Schützengräben, Granaten, Giftgasangriffe, Nahkampf, Leid und Tod. Bücher hatten nicht viel Bedeutung für ihn, wenn sie nicht in die Zukunft wiesen und auf die neue Zeit hindeuteten, die nach dem Ende des Weltkriegs anbrechen würde. Als er Benjamins Buch las, erkannte er, dass für die Familie Spinoza immer die Vergangenheit von höchstem Wert gewesen war. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto klarer schien ihm, dass die Zukunft, nicht nur seine eigene, sondern die der ganzen Menschheit, wichtiger war. Er stellte sich die Frage, wie das größte Glück für alle Menschen zu erreichen wäre. Frieden, soziale Gerechtigkeit, technischer Fortschritt und Anerkennung der Menschenwürde wären die Voraussetzung. Er brauchte auch nicht lange, um die Gesellschaftsform zu finden, die den Massen das Versprechen und die Hoffnung all dessen gab: der Sozialismus.
Es sollte noch viele Jahre dauern, bis er einsah, dass die Wahrheit doch ein wenig komplizierter war.
Während der Krieg an verschiedenen Fronten mit unstillbarem Appetit Millionen junger Männer verschlang, saß Nathan sicher und geborgen in seinem Elternhaus in Budapest und grübelte einsam vor sich hin. Nachdem das Zarenregime im Februar 1917 gestürzt war, hoffte er, die Bolschewiki würden die Bühne der Geschichte stürmen und das Volk zu einem entscheidenden Sieg führen. Doch es wurde November, bis die Kanonen des Panzerkreuzers Aurora über Petrograd verkündeten, die Zeit der Machtübernahme für Lenins Sowjets sei gekommen. Jetzt entstanden kühne Vorstellungen in Nathans Kopf: Die Ereignisse im Osten würden der Funke sein, der den Präriebrand der Revolution in ganz Europa entzündete, auch in Ungarn. Vor allem aber träumte er von einem privaten Glück, denn wenn er aufwachte, war niemand da, der ihm einen guten Morgen wünschte, und wenn er einschlief, gab ihm niemand einen Gutenachtkuss. Er träumte von einer Frau, mit der er seine einsamen Tage teilen könnte.
Im Volksmund wurden sie ironisch Liebesboote genannt, und sie waren bei Kriegsende und in den darauf folgenden Jahren enorm populär. Die Fahrten gingen sonntags nach Norden zu den pittoresken Kleinstädten Szentendre, Visegrád, Esztergom, und wenn das Wetter schön war, hatte man von den Booten aus eine herrliche Sicht auf Budapest und seine waldreiche Umgebung.
An den Bootsfahrten nahmen hauptsächlich zurückgekehrte Soldaten und junge Frauen teil, deren Zukünftige nicht aus dem Krieg heimgekommen waren. Die meisten kauften den Fahrschein nicht, um die große Liebe zu finden, dieses wirkliche Opium des Volkes, sondern sie gaben sich mit dem zufrieden, was sie haben konnten. Die Zufälle führten den Sohn eines Professors mit der Tochter einer Wäscherin zusammen, einen gläubigen katholischen Schweißer mit einer protestantischen Blumenverkäuferin, einen jungen Mann aus dem niederen Adel, der an der italienischen Front den rechten Arm verloren hatte, mit einer kurzsichtigen konvertierten Jüdin. Und Nathan mit Sara. Aber ich nehme an, Großvater und Großmutter haben selbst vom ersten Augenblick an erkannt – er mit Freude, sie mit Bedauern –, dass sie, trotz ihrer Verschiedenheit und gegensätzlichen Lebenseinstellung, füreinander bestimmt waren.
EIN NORMALES LEBEN
Als Kind liebte ich es, mit Großmutters Nähmaschine zu spielen,
Weitere Kostenlose Bücher