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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Faszination informierte er sich über Gregor Mendels Vererbungsforschung, hoffte er doch, andere Erklärungen dafür zu erhalten, dass er seine Söhne verloren hatte. Doch er musste einsehen, dass – obwohl das Erbe schwer wiegt – weder der Zufall noch bestimmte variable Faktoren bei der Geburt und während der Kindheit für das Verhältnis zwischen ihm und seinen Söhnen so schwer wogen wie seine eigene Abgewandtheit und seine eigenen Versäumnisse.
    In dem Kapitel, in dem Benjamin die Denkmuster und die Lebensweise der alten Griechen behandelt, fand er eine Passage, die ihm keine Ruhe ließ:
    »Die alten Griechen hatten eine bemerkenswerte Gewohnheit: Für diejenigen, die verbrannt, von Vulkankratern verschlungen, von Lava begraben, von wilden Tieren zerrissen oder von Haien gefressen wurden, baute man in ihrer Heimat sogenannte Kenotaphe, leere Gräber. Denn der Körper ist Feuer, Wasser oder Erde, und die Seele ist Alpha und Omega, und für sie soll man ein Mal des Gedenkens errichten.«
    Genau ein Jahr nachdem Kalman in Fiume den Zug nach Brescia bestiegen hatte, ließ Bernhard einen Stein über dem leeren Grab aufstellen, das er auf dem jüdischen Friedhof bestellt hatte. In den Stein waren drei Wörter eingemeißelt: »Kalman Spinoza – vermisst.« Lange stand Bernhard an dem leeren Grab, allein, die Hände zu Fäusten geballt, und kämpfte gegen die Tränen.
    Ich bin der letzte Spinoza. Es hätte auch gut sein können, dass unser Geschlecht nicht hätte aussterben müssen. Aber ich habe keine Kinder in die Welt gesetzt, ich habe nie eine Frau gehabt, nicht weil ich kein Interesse am anderen Geschlecht gehabt hätte, sondern als Folge meiner Unfähigkeit, jemanden zu lieben. Ich liege in einem Krankenhaus in Oslo, mein Körper ist voller Metastasen, binnen kurzem wird unsere Familiensaga ein wohlverdientes Ende nehmen. Und jetzt, gegen Ende meines Lebens, drängen die Erinnerungen sich auf, all diese Erinnerungen, von denen ich glaubte, sie seien verblasst, davongeglitten in der Zeit, sie haben sich in Bewegung gesetzt, sie leben ihr Eigenleben, und die Vergangenheit wächst aus ihnen hervor, unsere vieldeutige Vergangenheit. Ich widme die mir verbleibende Zeit und Energie dem Versuch, meine Verwandten vor dem spurlosen Verschwinden zu bewahren. Alles, was in meinem Kopf auftaucht, schreibe ich auf. Vielleicht formen sich meine Wörter zu einem Kenotaph, einem leeren Grab der Familie Spinoza, denn unsere Körper sind vergänglich, aber unsere Seelen sind aus der Ewigkeit gekommen, und für sie versuche ich, ein Denkmal zu errichten.
DIE RACHE IN WIEN
    An einem Pessachabend erzählte Bernhard seinen Söhnen als Antwort auf Nathans Frage, warum sie nie Familientreffen hätten, dass ihre Tante mit einem unwissenden katholischen Bauern verheiratet sei, mit dem niemand etwas zu tun haben wolle, und dass ihr Onkel, der in einem großen Palast in Wien lebe, seine Geschwister hinters Licht geführt und Großvaters hinterlassenes Vermögen mit Beschlag belegt habe, was deutlich erkennen lasse, welch schlechten Charakter Nikolaus habe, und deshalb wolle er nichts mit ihm zu tun haben; aus diesen Gründen träfen die Kinder ihre übrige Familie kaum.
    Unwillkürlich musste Nathan daran denken, als er vor der Haustür stand, vollkommen schockiert von dem Anblick, wie sein Vater in Marika eindrang. Er brauchte nicht lange, um zu beschließen, nach Wien zu fahren. Er wollte seinen Onkel aufsuchen. Denn im Augenblick fiel ihm nichts Besseres ein, um sich an seinem Vater zu rächen, als Nikolaus zu bitten, ihm finanziell beizustehen, damit er sein eigenes Leben beginnen konnte.
    Nikolaus empfing und umarmte Nathan herzlich. Dann nahm er ihn einige Minuten in Augenschein, musterte ihn und verglich – Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten. Er sagte, es habe ihn all die Jahre geschmerzt, seine Neffen nicht treffen zu können, und er wünsche nichts sehnlicher, als dass die Situation sich ändere und die Familie wieder vereint wäre. Nathan empfand eine unerwartete Erleichterung über den herzlichen Empfang. Ein Lächeln, das erste Lächeln, seit er seinen Vater und Marika ertappt hatte, breitete sich auf seinen Lippen aus. Nikolaus führte ihn in einen elegant möblierten Salon und bot ihm ein Glas trockenen Sherry an. Während sie am Amontillado nippten, erzählte er, dass Bernhard seiner Ansicht nach viel zu weit gegangen sei, als er aufgrund einiger unglücklicher Missverständnisse jeden Kontakt zwischen ihnen abgebrochen

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