Das Elixier der Unsterblichkeit
Parteiführung zu dem Schluss, es wäre am klügsten, wenn er – selbstverständlich ohne seine Familie – in die Sowjetunion emigrierte. Dies galt als großes Privileg. Denn im Prinzip war jeder Kommunist verpflichtet, in seinem eigenen Land für die Revolution zu arbeiten. Doch Nathan war zu wichtig. Er hatte einen scharfen Blick dafür, was von den Menschen zu halten war, er war ein brillanter Analytiker und auch mit den subtilsten Punkten der marxistischen Lehre vertraut, eine Seltenheit in Parteikreisen. Man hielt das Risiko, dass er verhaftet würde, für zu groß, sodass er noch in der gleichen Nacht aus Ungarn herausgeschmuggelt werden sollte. In Berlin würde er das Visum für die Sowjetunion erhalten. Nathan war erleichtert. Endlich auf dem Weg ins gelobte Land, fort von den Fesseln der bürgerlichen Welt. Was sein Entschluss für die Zukunft seiner Frau und seiner Kinder bedeutete, interessierte ihn weniger.
MOSKAU WAR KEIN PARADIES
Nach fünf Monaten in Berlin, kurz bevor sich die lange Nacht des Nationalsozialismus über Deutschland senkte, kam Nathan nach Moskau. Er reiste in Gesellschaft von acht deutschen Genossen, leidenschaftlichen Kommunisten, die die Schlacht gegen Hitler verloren hatten und jetzt zur Flucht gezwungen waren, um ihre Haut zu retten. Sechs Jahre später, als Nathan das Glück hatte, die Sowjetunion verlassen und in seine Heimat zurückkehren zu können, lebte keiner von ihnen mehr. Mit Hilfe von brutalen Gefängnistorturen, unmenschlichen sibirischen Lagern oder gut gezielten Genickschüssen – genau wie Chiara Luzzatto es hundertdreißig Jahre zuvor beschrieben hatte – verschlang die Revolution die besten ihrer Kinder.
Als erster verschwand David Goldstücker. Er entstammte einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Köpenick, diente aber voller Überzeugung der proletarischen Revolution. Als Anführer einer bewaffneten Zelle hatte er im heißen Sommer 1932 viele blutige Kämpfe mit SA-Männern ausgefochten. Nathan war bei ihm in Berlin untergekommen und sie schlossen eine herzliche Freundschaft, auch wenn persönliche Freundschaftsbande zwischen Parteimitgliedern als zweifelhaft angesehen wurden und zum Verdacht auf politische Fraktionsbildung Anlass gaben. Der einzelne konnte Irrtümer begehen, von ihm Nahestehenden in die Irre geleitet werden. Aber nie die Partei. Sie war unfehlbar, und nur wer blind an die Partei als die vollendete Manifestation der revolutionären Idee in der Weltgeschichte glaubte, gehörte in ihre Reihen. Doch Nathan und Goldstücker machten sich nichts daraus. Einer fühlte sich wohl in Gesellschaft des anderen. Unter vier Augen konnte Goldstücker ein gutmütiger Mann mit viel Humor sein, den Nathan sehr mochte. Gleichzeitig war er dickhäutig und unsensibel, sehr darauf bedacht, sich nicht irremachen zu lassen. Seine Vorstellung vom Paradies der Arbeiter im Osten war von der Parteipropaganda bestimmt. Er glaubte, die Sowjetunion brodele vor Kreativität und Schaffenslust disziplinierter Arbeiter und begeisterter Bauern, der Wohlstand werde unter der Leitung effizienter Ingenieure und untadeliger Beamter erreicht, die ihre Inspiration und Anleitung von visionären und selbstlosen Genossen in der Parteiführung bezogen. Aber schon an der Grenzstation geriet Goldstücker ins Grübeln. Grimmige sowjetische Zollbeamte packten sämtliche Koffer aus und untersuchten misstrauisch deren Inhalt: Jedes Kleidungsstück wurde von innen nach außen gewendet, jedes Buch und jede Drucksache wurde mühsam kontrolliert. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Alles wurde durchkämmt, bevor es wieder in die Koffer geworfen wurde. Alles außer Nahrungsmitteln, die, dem hungrigen Gesichtsausdruck der Zöllner nach zu urteilen, in ihren eigenen Taschen landeten. Alle, die aus Berlin kamen, verstanden, dass das Land, das während des laufenden Fünfjahresplans Amerika überholen sollte – die Parteiführung hatte versprochen, dieses Ziel in weniger als vier Jahren zu erreichen –, in Wirklichkeit zurückgeblieben war und unter einer umfassenden Hungersnot litt. Alle sahen und verstanden. Doch nur Goldstücker hatte den Mut, sein eigenes Gewissen über die Forderung der Partei nach einer gut funktionierenden inneren Zensur zu stellen. Er wagte Fragen zu stellen.
In Moskau wurden Nathan und die deutschen Genossen von Stalins Protegé Lawrenti Berija, dem kahlköpfigen und kurzsichtigen kleinen Mann mit Pincenez in Empfang genommen. Es war seine Aufgabe, sich der
Weitere Kostenlose Bücher