Das Elixier der Unsterblichkeit
Wachstum. Hört genau zu und denkt nach. Ich hatte vier Großeltern. Gehen wir fünf Generationen zurück, also in die Zeit um die Französische Revolution, dann erhöht sich die Anzahl auf hundertachtundzwanzig. Um 1630 hatte ich sechzehntausenddreihundertzweiundachtzig Ahnen. Wenn ich noch weiter zurückgehe, zum Anfang des 14. Jahrhunderts, also dreißig Generationen zurück, dann sind es eine Milliarde und hundertfünfundzwanzigtausendachthundertvierundzwanzig Ahnen. Kommt ihr mit? Das bedeutet, dass ihr beide mindestens vier Milliarden und dreihundertsechzig Millionen und fünfhundertdreitausendzweihundertsechsundneunzig Ahnen habt.«
Niemand kann alle seine Ahnen auseinanderhalten. Am wenigsten ich, der, Großvater zufolge, so viele gehabt hat. Außerdem führten die meisten meiner Verwandten ein Leben, auf das kein besonderer Glanz fällt. Deshalb ist es das Beste, sie in Frieden ruhen zu lassen. Ich werde mich darauf konzentrieren, von einer Handvoll Personen zu erzählen, die auf der Bühne der Geschichte gestanden haben, bemerkenswerte Frauen und Männer, deren Leben und Taten dank der Bruchstücke, die mein Großonkel Sasha und mir enthüllt hat, meine kindliche Phantasie in Bewegung versetzten. Ihr Schicksal eröffnet zugleich einen Ausblick auf die Geschichte Europas.
DAS EWIGE LEBEN
Wer die Erzählung über meine Familie aufmerksam verfolgt hat, erinnert sich vielleicht daran, dass im Jahre 1158 ein Gerücht verbreitet wurde – das auch weit über die Grenzen Portugals hinausgelangte –, dass der Leibarzt des Königs, Baruch de Espinosa, dessen Mixturen kraftlose alte Männer in virile Stiere verwandeln konnten, übernatürliche Macht besaß, Krankheiten zu heilen. Auch habe er ein Heilkraut gezüchtet, das den Tod auf Abstand hielt.
Das ewige Leben, nicht weniger rätselhaft als die Liebe, hat nie aufgehört, Menschen zu faszinieren und zu verwirren. Viele zweifeln jedoch an der Möglichkeit, durch ein Kraut ewig zu leben. Ich habe deshalb beschlossen, das große Geheimnis zu lüften, obwohl mir dies verboten ist.
Kein Spinoza hat es je einem anderen Menschen erzählt als seinem ältesten Sohn – nicht seiner Frau, nicht seinen Freunden, nicht seinem König oder Herrscher. Denn Moses, der große Prophet der Juden, hatte Baruch gesagt, dass dieses Geheimnis von seinen Kindern und Kindeskindern tausend Jahre lang gehütet werden solle, und solange seine Nachkommen sich an ihre Verpflichtung hielten, würden sie erhobenen Hauptes unter den Menschen auf der Erde wandeln, und der Herr würde über sie wachen. Doch wenn jemand den Willen des Herrn verriete, würde sein Geschlecht ausgelöscht werden von der Erde.
Ich habe keine Kinder, keinen Sohn, an den ich das große Geheimnis weitergeben kann. Ich bin der letzte Spinoza, und ich werde bald sterben. Ich habe nichts zu verlieren, mit mir verschwindet meine Familie von der Erde, und ich habe nicht vor, etwas mit ins Grab zu nehmen.
Fast alles, was ich über das Leben meiner Vorväter weiß, habe ich von meinem Großonkel gelernt. Aber in das große Geheimnis war nicht einmal er eingeweiht. Es wurde mir enthüllt, als ich das Buch
Das Elixier der Unsterblichkeit
des Philosophen Benjamin Spinoza las, das ich von meinem Großvater geerbt habe. Das Buch war über dreihundert Jahre im Besitz meiner Familie, und kein Außenstehender hat es jemals gelesen. Ich selbst vertiefte mich allzu spät in die Lektüre.
Benjamin Spinoza beschreibt das geheime Kraut, das den Tod auf Abstand hält. Ich gebe die lapidaren Worte des Philosophen hier wieder, ohne etwas hinzuzufügen:
Die geheime Pflanze – Baruch Spinoza nannte sie Raimundo, zum Gedenken an seinen toten Freund – erhält man, indem man Zitronenmelisse, Kamille, Johanniskraut, Schneeglöckchen und Eibe möglichst dicht nebeneinander der Wurzel einer Zamina acuminata-Pflanze aufpfropft.
Die Wirtspflanze wird jeden dritten Tag gründlich mit einem Sud aus Meerschweinchenleber, dem Urin eines Lemuren, Mithridat (bestehend aus Feldthymian, Koriander, Anis, Fenchel und Weinraute) und Teriak (zubereitet aus Mohnsamen und weißer Meerzwiebel) begossen.
Die neue Pflanze lebt nie länger als acht Monate und kann sich nicht vermehren.
Die Pflanze wird einen Monat an der Sonne getrocknet. Daraufhin wird eine Tinktur zubereitet, indem man die getrocknete Pflanze dreißig Tage in ein alkoholhaltiges Lösungsmittel legt. Die Tinktur wird zweimal täglich im Abstand von exakt zwölf Stunden geschüttelt. Nach
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