Das Elixier der Unsterblichkeit
nämlich nach all diesen Jahren die Geschichten wiederzugeben, die ich seit meiner Kindheit in mir trage, und dadurch zu verhindern, dass die, die vor mir auf Erden weilten, in Vergessenheit geraten. Aber ich beabsichtige nicht, Generation auf Generation der Familie de Espinosa zu schildern, die am Ende des 16. Jahrhunderts, nach der Flucht von der Iberischen Halbinsel nach Amsterdam, ihren Familiennamen zu Spinoza verkürzte. Dies liegt nicht nur an meiner mangelnden literarischen Begabung, über die ich zuweilen tief betrübt bin. Es liegt eher an etwas, was Großvater Sasha und mich gelehrt hat. Ich will versuchen, es zu erklären.
Großvater hielt stets eine merkwürdige Distanz zu seiner Familie. Wenn Sasha und ich ihm vielsagend verkündeten, dass manche unserer Klassenkameraden von ihren Großeltern in die feine Konditorei Gerbeaud eingeladen wurden, reagierte er mit eisigem Schweigen. Wenn wir dann geradeheraus fragten: »Großvater, findest du nicht, dass du uns ein bisschen mit leckerem Kuchen verwöhnen könntest?«, antwortete er, wenn überhaupt, trocken: »Süßigkeiten sind nicht gut für die Zähne, Kinder.«
Nein, Großvater machte sich keine große Mühe, eine warmherzige Beziehung zu uns zu pflegen, das wussten mein Bruder und ich nur allzu gut, obwohl wir klein waren. Ich glaube sogar, dass er uns überhaupt nicht mochte, denn meistens war er verärgert, wenn wir in seiner Nähe waren. Aber es gab zwei Eigenschaften, die uns trotz allem stolz machten, seine Enkelsöhne zu sein. Diese beiden Eigenschaften hinterließen einen bleibenden Eindruck bei mir, und sie imponieren mir noch heute:
a) Sein elegantes Äußeres.
Großvater legte größten Wert auf Körperpflege und stilvolle Kleidung. Er war ein stattlicher Mann mit aufrechter Haltung und gut proportioniertem Körper. Keiner blieb unbeeindruckt von der maskulinen Würde, die er ausstrahlte. Obwohl er schon über siebzig war, wandten sich auch junge Frauen auf der Straße schmachtend nach ihm um, wenn er in gewienerten Schuhen, dunkelblauem Anzug mit Weste, weißem Hemd und makellos geknüpfter Fliege mit kleinen weißen Punkten gemessenen Schritts daherkam. In der Hand hielt er stets einen Stock – natürlich ein spanisches Rohr – und bewegte sich mit zurückhaltender Würde. Seinen kahlen Schädel verbarg er unter einem eleganten Hut. Er sah tatsächlich vornehm aus und hob sich von der Masse im grauen sozialistischen Alltag ab.
Ich glaube, selbst wenn man ihn mit einer Pistole bedroht hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen, sein Äußeres zu vergessen. Auch als letzter Überlebender auf einer einsamen Insel hätte er es sich aufgrund seiner Herkunft und Erziehung nicht erlaubt zu verfallen. Denn wie man es in Paris so treffend ausdrückt: »Noblesse oblige.« Und Großvater war der Sohn einer österreichischen Prinzessin.
b) Seine Rechenkunst.
Mein Großonkel behauptete gelegentlich, es gebe in der Weltgeschichte nur zwei Personen, die in weniger als zwei Sekunden ein halbes Dutzend zwanzigstellige Zahlen im Kopf multiplizieren könnten: Großvater und Albert Einstein. Er ließ uns diese Information immer in einer beiläufigen Bemerkung zukommen, aber mit einem spöttischen Zwinkern, dem ich entnahm, dass dieser Einstein nicht ganz Großvaters Klasse hatte.
Nur selten war uns das Privileg vergönnt, Großvaters Fähigkeit zu erleben, unfassbar schnell zu addieren und zu multiplizieren. Aber ich erinnere mich an eine Gelegenheit. Es war gegen Ende seines Lebens, er saß mit der Zeitung in der Hand zurückgelehnt in einem Sessel und blickte auf, als mein Großonkel die Haustür hinter sich zugezogen hatte. Er sagte: »Fernando unterhält euch mit tausendundeiner Geschichte, Jungs, und jede ist ausladender als die vorangegangene. Beim Geschichtenerzählen geht es natürlich nicht darum, ob etwas wirklich geschehen ist, sondern nur darum, wie die Geschichte erzählt wird. Fernando ist unterhaltsam, das kann ihm niemand nehmen, und er erzählt immer faszinierende Geschichten über eure Wurzeln. Aber hat er euch jemals etwas über exponentielles Wachstum erzählt?«
»Exponentielles Wachstum?« Sasha und ich sahen uns fragend an.
»Fernando, der so viel über die Vergangenheit redet – hat er euch klargemacht, wie viele Vorväter ihr habt?«
»Doch«, erwiderte Sasha schnell. »Mindestens dreißig.«
»Dreißig«, wiederholte Großvater und lachte laut auf. »Hört mir zu, Jungs. Jetzt bekommt ihr eine Lehrstunde in exponentiellem
Weitere Kostenlose Bücher