Das Elixier der Unsterblichkeit
Geheimnisse geschwängert. Die Herzen der Menschen füllten sich mit einer besonderen Art von Sehnsucht. Die Männer sangen Lieder, die Frauen murmelten mit leiser Stimme das Abendgebet. Mitten in dieser Stimmung erwartungsvoller Hoffnung hielt der Rabbiner eine kurze Predigt und pries die frommen Tugenden, die auf dem goldenen Thron der Herrlichkeit im Himmel saßen, während die Mysterien der Thora offenbart wurden. Der Schweiß perlte auf der Stirn des Rabbiners, während er sprach. Moishe lauschte voller Bewunderung. Viele Gesichter waren tränenüberströmt. Alle Gemeindemitglieder wussten in diesem Augenblick, dass die Mysterien der Thora eins waren mit den Mysterien der Welt.
Nach dem Gottesdienst stellten sich Moishe und sein Großvater auf den Platz vor der Synagoge, umringt von Menschen, die dem Jungen danken wollten, der die Juden in Córdoba gerettet hatte, und dem Rabbiner, der eine wunderbare Predigt gehalten hatte. Nach einer Weile machten sich die Menschen auf den Heimweg. Der Junge und sein Großvater schauten zu dem klaren Himmel auf, der voller strahlender Sterne war. Beide fühlten Frieden in ihrer Seele, als sie in die Höhe blickten.
»Wo die Wahrheit sich auch finden mag«, sagte der Rabbiner, »eins ist sicher: Der Himmel ist gewaltig und grenzenlos.«
»Großvater, das Licht braucht tausende von Jahren, um von den Sternen hierher an unsere Augen zu gelangen«, sagte Moishe. »Die Sterne, die im Weltraum funkeln und glitzern, sind Sonnen, sehr viel größer als die Erde, jede von ihnen mit eigenen Planeten, die vermutlich selbst ganze Welten sind. Der blasse Flecken dort oben ist vielleicht ein Knäuel von Millionen Himmelskörpern. Stell dir vor, Großvater, die Geheimnisse des Weltraums ergründen zu können. Exakt jede Sonnen- und Mondfinsternis und jedes neue Auftauchen von Kometen vorhersagen zu können.«
»Wer die heiligen Schriften deuten kann, vor allem die Offenbarungen der Propheten, findet Antwort auf alle Fragen«, sagte der Rabbiner und griff sich an die Brust.
Moishe merkte nicht, dass seinem Großvater das Atmen schwerfiel. Die Augen des Jungen leuchteten wie zwei Edelsteine, sie sprühten vor Feuer und nächtlichen Versprechen. In der Dunkelheit schien das Universum erfüllt zu sein von unlösbaren Rätseln.
Wie in allen Jahren zuvor versammelten sich auch in diesem Jahr Abraham Orabuenas Freunde mit ihren Frauen in seinem Haus zum Beginn des Pessachfests. Die Ehefrau des Rabbiners hatte zusammen mit einigen anderen Frauen viele Stunden lang den Sederabend, der das acht Tage lange Pessach einleitete, vorbereitet. Das Fest des ungesäuerten Brotes markierte Israels Entstehung als Volk und das Gedenken an den Auszug aus Ägypten. An diesem Abend sollten alle Juden sich so fühlen, als verließen sie die ägyptische Sklaverei und wären freie Menschen.
Zu Ehren des Sederabends trug der Rabbiner einen schönen Gebetsmantel und eine reich verzierte Kippa. Im Wohnzimmer, das von köstlichen Düften aus der Küche und der Wärme vom Herd erfüllt war, stand ein für achtzehn Personen gedeckter Tisch. Rabbi Orabuena legte großen Wert darauf, bei jedem Fest achtzehn Tischgäste zu haben – nicht mehr und nicht weniger –, denn in der jüdischen Mystik bedeutet Achtzehn »Leben«.
Die Gäste saßen auf bequemen Kissen und plauderten, sie lachten und unterhielten einander mit einem Strom von Klatsch. An einem Tischende saß der Rabbiner. Alle wussten, dass er bei den Festen Proben eines robusten Humors zum Besten zu geben pflegte und dass keine Schmeichelei bei ihm besser ankam, als wenn man über seine Witze lachte. Aber am Beginn dieses Abends war er ungewöhnlich still und gesammelt.
Die Frau des Rabbiners zündete zwei Kerzen an und rezitierte den vorgeschriebenen Segen. Der Rabbiner erhob sich. Alle am Tisch starrten ihn an. Sorgfältig und mit ein wenig steifen Bewegungen segnete er den Wein. Darauf sollte die Gastgeberin die Haustür öffnen, um der Tradition gemäß den Propheten Elia mit der Ankündigung der Ankunft des Messias eintreten zu lassen.
Die Haustür wurde geöffnet. Zu aller Verwunderung stand ein jüdischer Wanderer vor dem Haus. Er sah nicht wie ein gewöhnlicher armer Schlucker aus, sondern mehr wie ein Weiser. Aber seine Kleidung war voller Löcher. Moishe warf einen Blick auf den Fremden und verstand sogleich, dass er einer der sechsunddreißig Gerechten war, die ein Leben in Armut lebten und deren Tugend und Demut es der Welt ermöglichten zu
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