Das Elixier der Unsterblichkeit
Eindruck auf den Gouverneur, der sich intellektuell stimuliert fühlte. Die Predigten der Priester über die Liebe Gottes hatte Manzanedos del Castillo immer lächerlich gefunden, denn in Befolgung der Nächstenliebe müsste man auch Menschen lieben, die nicht an den Erlöser Jesus Christus glaubten, beispielsweise Juden und Muslime. Aber der Gedanke war ihm fremd, denn er war der Ansicht, dass es gefährlich war, seine Feinde nicht nur als Feinde zu betrachten. Wie Manzanedos del Castillo das Problem auch drehte und wendete, es fiel ihm schwer, an die Nächstenliebe zu glauben.
Deshalb fragte er Moishe: »Ihr Juden meint also, dass das Gesetz wichtiger ist als die Liebe?«
Der Junge antwortete ohne zu zögern: »Das bekannteste christliche Gebet beginnt mit den Worten ›Vater unser, der du bist im Himmel‹ und endet mit ›und erlöse uns von dem Bösen‹. Das bedeutet, dass das Böse als ein Teil der Natur des Menschen angesehen wird, dass es uns angeboren ist, dass aber Gott uns vom Bösen befreien kann, wenn er unsere Gebete hört. Immer wieder nehmen Menschen, in der Überzeugung, eine Liebestat in Übereinstimmung mit Gottes Willen zu vollbringen, die Rolle eines Erlösers auf sich und wollen andere vom Bösen befreien. Das hat stets tragische Folgen, mit noch mehr Bösem, Blutvergießen und Leiden. Im Laufe unserer Geschichte ist mein Volk oft sogenannten liebevollen Versuchen, uns von unserem vermeintlichen Bösen zu erlösen, ausgesetzt gewesen, und wir wissen, wozu diese Art Liebe führt. Deshalb bestehen wir darauf, dass Gottes Gesetz über allem steht, denn es gibt uns Regeln, wie wir hier auf der Erde miteinander leben sollen. Vor allem steht niemand über dem Gesetz.«
»Aber das Gesetz befreit uns nicht von unserem angeborenen Bösen«, entgegnete Manzanedos del Castillo rasch.
»Wir Juden«, erklärte Moishe freundlich, aber bestimmt, »wir glauben nicht, dass der Mensch böse geboren wird. Talmudischer Auffassung entsprechend trägt das neugeborene Kind keine moralische Schuld. Unsere Persönlichkeit wird durch unsere Erfahrungen geformt, die davon beeinflusst werden, in welcher Familie und wo wir leben, unter welchem Herrscher. Alle Menschen können Fehler begehen, sich schlechter Handlungen schuldig machen. Deshalb ist die Erinnerung so entscheidend. Weil wir uns an das Vergangene erinnern, können wir vermeiden, unsere schlechten Taten zu wiederholen. Für uns Juden ist es eine Pflicht, die Erinnerung lebendig zu erhalten, um uns miteinander versöhnen und Gott helfen zu können, die Welt zu verbessern.«
Manzanedos del Castillo war nicht sicher, die Argumentation des Jungen völlig verstanden zu haben. Das mit der Erinnerung gefiel ihm dagegen so gut, dass er sich selbst einige zustimmende Worte sagen hörte. Er dachte, dass es offenbar eine höhere und eine niedere Weltordnung gab, aber sie stimmten nicht überein. Einige wurden als Juden geboren und trugen an einem Fluch, andere waren Katholiken und gründeten Reiche. Aber Gottes Gesetz mussten alle respektieren. Plötzlich konnte er auch seine eigene Rolle in der Schöpfung als Wächter des Gesetzes in Córdoba sehen, betrachtete er doch alles von verschiedenen Seiten, ehrlich und ohne vorgefasste Meinung.
»Junger Mann« sagte Manzanedos del Castillo, »ich räume willig ein, dass ich nie versucht habe, den Gedanken zu vertreiben, dass ihr Juden ein fremdes Element in Córdoba darstellt. Aber jetzt, da du mich so beredt der Verehrung und Bewunderung meiner jüdischen Untertanen versichert hast, glaube ich sicher zu sein, dass ihr unsere Gesetze respektiert. Als Geste meiner Gnade und um zu zeigen, dass ich keinen direkten Widerwillen gegen eure Gruppe hege, schenke ich der jüdischen Gemeinde zehn Lämmer, die ihr selbst euren rituellen Vorschriften gemäß zubereiten und als Festmahl am bevorstehenden Osterfest unter den Ärmsten verteilen könnt.«
Binnen kurzem, erzählte mein Großonkel, kannten die Menschen überall in Europas Judenvierteln die Legende vom elternlosen Jungen, der allein und unerschrocken die Juden in Córdoba vor Verfolgung rettete.
SEDERABEND
Am Sederabend, dem ersten Abend des Pessachs, herrschte immer eine feierliche Stimmung in Córdobas Judenviertel. In der Dämmerung saß Rabbi Orabuena mit seiner Gemeinde in Erwartung des geliebten Freiheitsfestes in der Synagoge. Der enge Raum, der bei den Feierlichkeiten immer so stickig war, dass man kaum atmen konnte, war vom Geist Gottes, der Engel und der
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