Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
Vom Netzwerk:
auszuüben schien, konnte man vermuten, dass er bei den Juden eine schwelende Unzufriedenheit mit den Machthabern schüren würde. Wenn solche Kritik sich im Bewusstsein der Juden festsetzte, würde es schwerer werden, sie zu regieren.
    »Leute, die sich im Besitz absoluter Wahrheiten wähnen, sind gefährlich«, konstatierte der junge Hidalgo del Solís, der zeigen wollte, dass er handlungskräftig war, denn er hatte den Ehrgeiz, Nachfolger des alternden Gouverneurs zu werden. »Wir haben genügend Beispiele dafür erlebt, wie es geht, wenn die Menschen sich einbilden, sie könnten Unrecht abschaffen und der Wahrheit zum Sieg über falsche Vorstellungen verhelfen. Ich schlage vor, wir lassen die Folterknechte untersuchen, was der Grund für die Begeisterung der Juden über dieses Wunderkind ist.«
    Mehrere Mitglieder des regierenden Rates teilten die Auffassung des jungen Mannes. Aber der Gouverneur hielt dem entgegen, es könne gefährlich sein, schlafende Hunde zu wecken, indem man den Jungen der Folter unterziehe, und schlug stattdessen vor – wiewohl er mit wichtigeren Angelegenheiten befasst sei –, selbst mit Moishe zu sprechen und sich ein Bild von ihm zu machen.
    Hidalgo del Solís wandte ein, auch ein dreizehnjähriger Jude, von Fanatismus und Bosheit befeuert, könne eine Katastrophe auslösen, und deshalb müsse mit dem Jungen kurzer Prozess gemacht werden. Nach einer lebhaften Diskussion beschloss der Rat jedoch, dem Vorschlag des Gouverneurs zu folgen.
    Einem sich im jüdischen Viertel rasch verbreitenden Gerücht zufolge sollte Moishe ergriffen und gefoltert werden. Angst breitete sich aus, und Schwarzmaler sagten voraus, während des Pessachs würde jüdisches Blut fließen.
    Gouverneur Manzanedos del Castillo arbeitete an der Niederschrift seiner Erinnerungen, als Moishe ins Zimmer trat. Der Gouverneur sah nur flüchtig von seinen Papieren auf und bat den Jungen zu erklären, was er von Gott und dem Gesetz halte. Er forderte ihn auf, es schnell zu tun, denn er sei mit wichtigen Dingen beschäftigt.
    Moishe trat entspannt auf und redete ungezwungen. Die Worte strömten aus seinem Mund wie die Quellen in den Bergen der Sierra Madre, deren kristallklares Wasser sprudelnd zu Tal fließt. Der Gouverneur hatte noch nie einen Menschen so schöne Sätze formulieren hören. Er blickte von seinen Schriftstücken auf und musterte das Wunderkind, von dem man sagte, es sei den Propheten ebenbürtig.
    Der Junge zeigte noch keine Anzeichen der Pubertät, sein Gesicht war frei von Pickeln und auf seiner Oberlippe war kein Bartflaum zu erkennen. Er war bedeutend kleiner und schmaler, als der Gouverneur ihn sich vorgestellt hatte. Das einzig Auffallende an ihm war seine riesige Nase. Aber seine ganze Erscheinung – die Sicherheit, der Ernst, die Beharrlichkeit und die Überzeugung – verriet Reife und Souveränität.
    Moishe hielt an seiner Meinung fest, das Gesetz sei der vornehmste Ausdruck der unendlichen Weisheit Gottes des Allmächtigen. »Das Gesetz«, hob er hervor, »vereint die Menschen, während Glaubensvorstellungen, Sitten, Gebräuche und Vorurteile uns trennen.« Dann fügte er hinzu, der Grund dafür, dass dem Gouverneur überall unter den Juden in Córdoba Respekt und Bewunderung, Liebe und Verehrung entgegengebracht werde, sei, dass Seine Gnaden Manzanedos del Castillo der Garant des Gesetzes sei.
    Der Gouverneur war geschmeichelt. Es war lange her, dass sich jemand mit so respektvollen Worten über ihn geäußert hatte. Er war ein Enkel König Ferdinands III. von Kastilien, des Schreckens der Mauren, der im Jahre 1236 Córdoba erobert hatte. Einige katholische Jahrzehnte später hatte sich die Metropole – die unter Kalif al-Hakimen das Zentrum der arabischen Welt mit einer Bibliothek von über einer Million prachtvoller Bände war – jedoch in eine verschlafene Garnisonshauptstadt verwandelt. Das Leben Manzanedos del Castillos dümpelte wie die Stadt Córdoba in einer Flaute dahin. Das Alter hatte ihn zu einem Schatten seiner selbst werden lassen. Früher waren politische Intrigen sein Lebenselixier gewesen, aber jetzt war er all dessen müde. Das einzige, was ihn interessierte, war die Abfassung seiner Memoiren. Seine Position in Córdoba war nicht mehr die von früher. Man brachte ihm weniger Respekt entgegen, und er hatte das Gefühl, die jüngsten unter den Ratsherren lachten hinter seinem Rücken über ihn.
    Moishes Worte, vor allem seine originelle Art, die Welt zu betrachten, machten

Weitere Kostenlose Bücher