Das Elixier der Unsterblichkeit
existieren.
»Ein unerwarteter Gast«, stieß die Frau des Rabbiners hervor. Der Gast wurde gebeten einzutreten.
»Pesach sameach – ich wünsche allen ein gutes Pessach«, grüßte der Mann höflich, während er demütig den Kopf neigte und eintrat.
»Pesach sameach, Fremder«, sagte der Rabbiner. »Kommt und setzt Euch an den Tisch und erzählt, was Euch in unsere Gegend führt.«
»Ich bin nicht gekommen, um an der Festmahlzeit teilzunehmen. Ich bin nur hier, um etwas zu sagen.«
»Dann tut es«, sagte der Rabbiner.
»Makbenak.«
Als der Mann dieses Wort aussprach, verwandelte sich das Gesicht des Rabbiners. Tränen überströmten es. Die Augen, die Wangen, der graumelierte Bart – alles wurde nass. Er bewegte die Lippen, aber es kam kein Ton heraus. Die Gäste am Tisch verstummten. Bevor jemand ein Wort sagen konnte, hatte der Fremde das Haus verlassen.
»Verehrter Rabbi, erklärt uns, wer dieser Mann war und was er wollte«, bat einer der Gäste.
Der Rabbi zog ein großes Schnupftuch hervor, um sich die Augen zu trocknen und sich zu schneuzen. Mit gebrochener Stimme sagte er: »Wir haben gerade ein Wunder erlebt.«
»Ein Wunder?«, wiederholte ein anderer Gast ungläubig. »Was meint Ihr damit, lieber Rabbi?«
Ein sonderbares Schweigen folgte. Alle Anwesenden starrten den Rabbiner erwartungsvoll an. Moishe durchfuhr ein Schaudern. Er ahnte, was geschehen würde.
Der Rabbi starrte zur Decke. Er war sich sicher, dass die Seelen seiner Vorfahren über ihn wachten. Er spürte Gottes Gegenwart. Vor seinem inneren Auge sah er den Allmächtigen, der auf dem Thron der Ehre saß und auf ihn herabblickte. Vor seinem inneren Ohr hörte er die Engel Psalmen singen. Er verstand, dass das Buch des Lebens, in dem die Taten aller Menschen festgehalten sind, aufgeschlagen worden und dass die ihm bemessene Zeit abgelaufen war.
Der Rabbiner brach am Tisch zusammen. Einer der Gäste war der Arzt Pereira. Er eilte sogleich zu Hilfe.
»Was ist passiert?«, rief die Frau des Rabbiners. »Was ist mit meinem Mann? Könnt Ihr ihm helfen?«
»Das einzige, was er jetzt braucht, ist Gottes Gnade«, stellte der Arzt fest.
Knapp eine Stunde nach dem plötzlichen Tod des Rabbiners Abraham Orabuena waren die Straßen um sein Haus herum schwarz von Menschen. Die Stirnlocken der Männer wehten im Wind. Die Frauen stimmten ein lautes Klagen an. Die engsten Freunde des Rabbiners versuchten, die Menschen vom Haus fernzuhalten, aber die Neugierigen rissen fast die Tür aus den Angeln.
Die Leiche lag in schwarze Tücher gehüllt auf dem Bett im Schlafzimmer; neben dem Kopf brannten zwei Kerzen. Die Ehefrau des Rabbiners ging schluchzend umher. Sie hatte die Perücke der verheirateten Frau abgenommen und trug einen Schal um den Kopf. Die männlichen Gäste vom Sederabend hielten die Totenwache, sie saßen auf niedrigen Schemeln und sangen Psalmen.
DIE LEGENDE VON DER HEIMLICHEN QUELLE
Moishe hatte sich in der Schlafkammer versteckt und lag zusammengerollt auf dem Bett. Zorn und Trauer kämpften in seinem Inneren um die Vorherrschaft, wurden aber bald durch eine schwere Niedergeschlagenheit verdrängt. Er schloss die Augen. Die Mutter kam zu ihm, küsste ihn sanft auf die Stirn und nahm ihn tröstend in den Arm.
»Erklärt mir, geliebte Mama, was das Wort Makbenak bedeutet«, sagte Moishe.
»Du kennst doch die Legende von Adoniram? Das war der Mann, der König Salomos Tempel in Jerusalem erbaute, der auf dem Berg Moria stand, wo Abraham seinen Sohn Isaak zu opfern bereit war. Adoniram hatte mehr als hunderttausend Handwerker zur Verfügung, und Salomos Tempel war das vollkommenste aller Bauwerke in der Geschichte. Der unermüdliche Baumeister schöpfte Kraft, Inspiration und Wissen aus der geheimen Quelle, in der die sieben Weisheiten der ganzen Welt gesammelt sind. Nur eine Handvoll Auserwählter hat jemals Zugang zu der geheimen Quelle bekommen. Adoniram war einer von ihnen. So erhielt er Kenntnis von der Tempelvision des Propheten Hesekiel und von den komplizierten Maßen des allerheiligsten Raums. Er sollte als Quadrat von zwanzig mal zwanzig Ellen gebaut werden, und weil die Deckenhöhe ebenfalls zwanzig Ellen maß, bildete der Raum einen Kubus.«
»Einen Kubus?«, wiederholte Moishe.
»Ja. Auch der Brandopferaltar im Vorhof vor dem östlichen Tor des Tempels war quadratisch. In der Vision des Propheten Hesekiel maß der Altarherd zwölf mal zwölf Ellen. Aber Adoniram baute den Brandopferaltar, der den eigentlichen Gipfel
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