Das Elixier der Unsterblichkeit
von dem, was du sagst. Du willst mir nur einen Bären aufbinden«, stieß Sara hervor und stand auf, um zu gehen.
Plötzlich sah der Zehnjährige ein, dass sein Versuch, dem Mädchen von nebenan zu imponieren, gescheitert war. Sara hatte ihn durchschaut. Er hatte ihr allzu viele Lügen aufgetischt. Er bekam Angst, denn er wollte seine einzige Freundin nicht verlieren.
Deshalb gab er schnell ein Versprechen ab. »Sara, ich werde dir nie, nie mehr, solange ich lebe, etwas vorlügen. Ich verspreche es dir. Ehrenwort.«
Es war noch eine Stunde bis zum Einbruch der Dämmerung an einem Februartag fünf Jahre später – mein Großonkel und meine Großmutter waren erst fünfzehn Jahre alt –, als ihre Finger sich in dem uralten Spiel des Streichelns und Liebkosens begegneten. Sara hatte den ersten Schritt getan. Das machte Franci kühner. Er neigte sich näher zu ihr hin, um sich am Duft ihres jungen Körpers zu berauschen, dessen Anziehungskraft sich seinen Sinnen gerade erst zu offenbaren begonnen hatte. Er legte die Hand auf ihre Knie und phantasierte von diversen Genüssen, die zwischen ihnen ruhten. Aber wie sollte er es anstellen? Er beschloss, Sara zu küssen. Im selben Augenblick, in dem ihre Lippen sich an seinen festsaugten, wusste er, dass er sie liebte. Sie hielten einander umfangen und küssten sich mehrere Minuten lang.
DER ERSTE WELTKRIEG
Am 28. Juni 1914 gab der serbische Nationalist Gavrilo Prinčip mit schwitziger Hand in Sarajevo sechs Schüsse auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin ab.
Am selben Nachmittag saß Franz Joseph I. in Schloss Schönbrunn in Wien und betastete düsteren Sinnes sein kaiserlich-königliches Siegel. Das Gesicht des mächtigen Demiurgen mit den milchweißen zurückgekämmten Koteletten war das eines niedergeschlagenen alten Fuchses. Fast sieben Jahrzehnte lang hatte er die Entwicklung Mitteleuropas aufgehalten. Der vertrocknete Greis, der nichts Einnehmendes in seinem Wesen hatte, wusste, welche Kräfte in Bewegung gesetzt worden waren und dass er nichts tun konnte, um die soziale und politische Gärung im Reich zu stoppen. Seine Zeit war vorbei. Mit dem tragischen Tod seines Neffen in Sarajevo hatte sich seine letzte Hoffnung verflüchtigt. Er ordnete dreißig Tage Hoftrauer an.
Einen Monat später, bei Sonnenuntergang, stand Franz Joseph an einem offenen Fenster des Schlosses, die behandschuhten Hände auf das Geländer vor dem Fenster gestützt, und blickte auf die Welt hinaus. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und warf seinen Schatten über die Zukunft Europas. Er dachte, dass Imperien verwelken, wenn sie nicht mit Blut genährt werden, dass ihre Lebenstauglichkeit in Phasen von Brutalität und Krieg wächst. In einer Art vorausschauender Gutmütigkeit hatte er eingesehen, dass die Doppelmonarchie bedroht war, und unterzeichnete mit leichter Hand das Dokument, das die Länder des Kontinents in den Ersten Weltkrieg hineinzog.
Es dauerte ein ganzes Jahr, bis Franci zum Militärdienst einberufen wurde und dadurch zwei seiner grundlegenden Rechte verlor: das Recht auf sein eigenes Leben und das Recht, keinen anderen Menschen seines Lebens zu berauben.
Er nährte zu dieser Zeit zwei große Träume, doch die mussten zunächst zurückgestellt werden, denn sein Bataillon sollte an die italienische Front geschickt werden.
Der eine Traum bestand darin, in Wien bei Tancred Hauswolff – den eine Handvoll gleichgesinnter Psychoanalytiker höher einschätzte als Freud – phrenologische Studien zu betreiben; Hauswolff rühmte sich, die innersten Neigungen und Charakterzüge eines Menschen bestimmen zu können, indem er der Person nur einmal mit der Handfläche über den Schädel strich. Doktor Hauswolffs verblüffende Forschungen wurden in der Abendzeitung Magyar Estilap kolportiert, die ihre Leser täglich mit sensationellen Nachrichten aus aller Herren Länder versorgte. Mein Großonkel wurde den Gedanken nicht los, eines Tages selbst ein herausragender Erforscher der dunklen Tiefen der Menschenseele zu werden.
Der zweite Traum handelte davon, Sara zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen.
Der Zug ging Ende August vom Westbahnhof ab, wo sich eine bunte Menschenschar versammelt hatte und eine Militärkapelle flotte Marschmusik spielte. Nur Sara war gekommen, um ihrem Geliebten zum Abschied zu winken. Sie standen lange auf dem Bahnsteig, scherzten miteinander und hielten sich fest umschlungen. Bevor Franci,
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