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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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auszugeben. Aber der Preis für den Sieg war so hoch – fünfzigtausend verwundete und einundzwanzigtausend gefallene Italiener –, dass seine ermatteten Soldaten nicht einmal die Kraft aufbrachten, einander zur Niederlage des Feindes zu beglückwünschen.
    Auf Seiten der Verlierer waren die Offiziere mehrere Tage lang damit beschäftigt, ihre dezimierten Kompanien zu inspizieren und Listen der Gefallenen und Vermissten zu erstellen. In der herrschenden Verwirrung vermischten sich erregte Diskussionen und lautstarke Gebete. Nach einer Woche würden keine überlebenden Recken mehr auftauchen, die sich zwischen den Felsen versteckt hatten. Jetzt konnte man sich an die Arbeit machen, den Familien an der Heimatfront Kondolenzschreiben zu schicken.
SCHLECHTE NACHRICHTEN
    Als Sara die offizielle Benachrichtigung las, brach sie zusammen. Sie weinte und schrie, stammelte und klagte über ihr Unglück und spie, vermischt mit Speichel und Tränen, einen Strom von Bitterkeit und Verzweiflung aus. Nachdem sie drei Tage im Bett gelegen und ununterbrochen geweint hatte, war sie total erschöpft, hungrig, durstig und schläfrig und fühlte, dass sie versuchen musste, den grauenhaften Albtraum zu verdrängen.
    Francis Tod lag wie eine schwarze Wolke über Sara. Zwei Monate später hatte sie jedoch einen Traum. Er kehrte jede Nacht wieder. Sie träumte, dass ihre Liebe noch lebte, dass dunkelhaarige Engel in Italien für sein Wohl sorgten. Sie begann die schwache Hoffnung zu hegen, die Armeeführung würde wie durch ein Wunder entdecken, dass Franci lebte und sich in italienischer Gefangenschaft befand. Der Bekannte eines Bekannten erbot sich, die Angelegenheit mit Hilfe seiner Kontakte im Kriegsministerium in Wien zu untersuchen. Eine Woche später kam er wieder, brachte feinfühlig sein Beileid zum Ausdruck und zog ein zusammengefaltetes Telegramm hervor, in dem kurz und bündig stand, dass die Auskunft bezüglich Franz Scharfs Tod geprüft und für richtig befunden worden war.
    Saras Lippen begannen wie im Fieber zu zittern, und Tränen liefen aus ihren Augen.
    »Das Traurigste von allem«, sagte sie zu ihrer Mutter, die sie zu trösten versuchte, »ist, dass meine Kinder und Kindeskinder aufwachsen werden, ohne zu wissen, wer Franci war.«
    Als mein Großonkel nach zweieinhalb Jahren in italienischer Kriegsgefangenschaft nach Budapest zurückkehrte, erlebte er eine furchtbare Enttäuschung. Ihm kam sogar der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, er wäre auf dem Schlachtfeld in Doberdò gestorben. Kaum war er über die Schwelle getreten, hatte seine Schwester ihm erzählt, dass Sara geheiratet hatte und ein Kind erwartete – meinen Vater. Sie versuchte ihn damit zu trösten, dass er bestimmt ein Mädchen mit netter Figur finden würde, jetzt, wo der Krieg so viele junge Männer das Leben gekostet habe und ein Überschuss an jungen Frauen bestehe. Sie versprach ihm auch, sich bei einer Bekannten umzuhören, einer vornehmen Dame mit großem Bekanntenkreis, die ihm helfen würde, ein jüdisches Mädchen aus guter Familie zu treffen. Seine Hände zitterten und es schüttelte ihn. Er stellte sich so dicht wie möglich an den Herd, um die Eiseskälte zu vertreiben, die er im ganzen Körper spürte. Dennoch war er schweißgebadet. Was war das, dachte er. Er hatte sich noch nie so gefühlt, nicht in seiner Jugend, nicht in den Schützengräben, nicht im Militärkrankenhaus in der Nähe von Bologna, in dem Krankenschwestern ihn monatelang gepflegt hatten, damit er gesund würde, bevor er ins Internierungslager in der Emilia-Romagna geschickt würde. Der Schmerz drang ihm wie ein glühendes Messer ins Herz, und er musste sich setzen, tief Luft holen und die Augen schließen. Als er ein paar Sekunden oder, wie ihm schien, einige Jahrzehnte später, die Augen wieder aufmachte, sah er nur einen Ausweg aus seinem Elend: sich in die Donau zu stürzen.
    Die nächsten Tage saß er in der Küche und formulierte in einer Mischung aus Leidenschaft und Empörung bittere Abschiedsbriefe an Sara. Aber er schickte sie nie ab, denn er war nicht zufrieden mit den Formulierungen, obwohl er alle Möglichkeiten der Sprache ausgeschöpft hatte. Seine Schwester bewachte ihn Tag und Nacht, denn er hatte gedroht, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
    Bei näherem Nachdenken kam er zu dem Ergebnis, dass er noch keine Lust hatte zu sterben, denn das würde bedeuten, dass Sara mit ihrem Verrat viel zu leicht davonkam. In seiner Enttäuschung fiel er von einem

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