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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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voller Verachtung für die Gefahren, die seiner harrten, den Zug bestieg, versprach er Sara, dass sie ein gemeinsames Leben führen würden, sobald er aus dem Krieg zurückgekehrt wäre. Das brachte sie zum Weinen. In ihren Tränen kam die vage Vorahnung zum Ausdruck, dass sie einander nie bekommen würden, dass sie ihn ihr ganzes Leben lang vermissen und nie mit einem anderen Mann glücklich werden würde.
    Die italienische und die österreichisch-ungarische Armee (die hauptsächlich aus ungarischen Soldaten bestand) trugen am Fluss Isonzo, der von den hohen Bergen des nordöstlichen Italiens gesäumt wird, zwischen Juni 1915 und November 1917 zwölf große Schlachten aus. Tag und Nacht spien die Kanonen ihre Projektile gegen die Stellungen in den Gebirgsschluchten, und Gewehrkugeln hagelten gegen die Berge, die die Soldaten zu erklimmen versuchten. Diese Kämpfe zählen zu den blutigsten des Ersten Weltkriegs. Historiker schätzen, dass bis zu einer halben Million junger Männer hier fielen. Und noch mehr waren es, die zwar lebend, aber schwer verwundet, verkrüppelt und mit verlorenen Illusionen nach Hause zurückkehrten.
    Mein Großonkel schloss in der dritten Schlacht mit dem Krieg Bekanntschaft, die am 18. Oktober 1915 begann. Keiner in seiner Brigade tat in dieser Nacht ein Auge zu. Einige beteten, andere waren mit Vorbereitungen und Waffenpflege beschäftigt. Alle waren auf den Beinen und warteten auf den Angriff im Morgengrauen. Mein Großonkel war nervös und hatte einen Kloß im Hals. Er atmete einige Male tief durch und dachte an Sara. Er hörte ihre Stimme. Sie sprach von Liebe und davon, dass sie auf ihn wartete. Der Gedanke an das bevorstehende gemeinsame Leben mit ihr verjagte seine Furcht. Eine brüllende Offiziersstimme gab das Signal zum Angriff. Die Soldaten feuerten ihre Gewehre ab, und die kühnsten unter ihnen begannen vorzurücken. Die Italiener beantworteten das Feuer, und die ersten Kameraden um meinen Großonkel herum fielen. Im Tumult der Einleitungsphase wurden viele zu Märtyrern. Nach einer Stunde wurde der Schusswechsel von Stille abgelöst, die aber bald wieder in Kampflärm überging. Es dauerte nicht lange, bis mein Großonkel einsah, dass der Krieg eine Ausgeburt des Teufels war; er selbst hatte mit keinem Italiener eine Rechnung offen.
    In der letzten Nacht der sechsten großen Schlacht am Isonzo – in den Geschichtsbüchern wird sie die Schlacht bei Gorizia genannt – hielt mein Großonkel Wache. Er war inzwischen ein ganzes Jahr an der Front, ohne noch allzu viel an das eigene Glück und das Unglück anderer zu denken. Seine Brigade hatte den Auftrag, den vorrückenden Italienern standzuhalten. Er spähte durchs Fernglas hinüber nach Doberdò del Lago, wo der Feind sein Lager aufgeschlagen hatte. Er wusste, dass sie umzingelt waren und für die Gewehre der Italiener ideale Zielscheiben abgaben. Plötzlich spürte er die glühende Hitze eines Dumdum-Geschosses, das seine Uniform durchschlug, ein Loch in den Brustkorb riss, sich in die linke Lunge bohrte und wie eine Minigranate explodierte. Er stürzte, rollte herum und blieb am Boden liegen, verwirrt und wie gelähmt. Er hatte nie Angst gehabt zu sterben. Aber jetzt roch er die Nähe des Todes. Angst und Schrecken erfüllten ihn. Sein Gehirn brannte vor Fragen. Er dachte an all die jungen Italiener, die er getötet hatte. Er dachte an Sara. Er suchte ihr Gesicht mit dem Blick. Es war eine dunkle Nacht, und Myriaden von Sternen leuchteten am Himmel. Sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor, war, dass niemand ihn gelehrt hatte, mit ein wenig Würde zu sterben.
    Am nächsten Vormittag – dem elften Tag dieser sechsten Schlacht – hisste die kaiserlich-königliche Armee die weiße Flagge. Die Kapitulationsdokumente wurden vom Befehlshaber Svetozar Boroevic unterzeichnet. Die Zeremonie war kurz. Daraufhin bot Boroevic dem italienischen Stabschef Luigi Cadorna einen französischen Cognac an, um zu zeigen, dass der Krieg seine guten Manieren nicht im Geringsten beeinträchtigt hatte. Die Herren tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln aus. Als Boroevic sich vergewissert hatte, dass keiner seiner Adjutanten in Hörweite war, drückte er dem Italiener seine Bewunderung für dessen clevere militärische Strategie aus.
    Cadorna war mächtig stolz auf seinen Triumph, den größten in seiner Laufbahn. Um seinen Männern für ihre grenzenlose Tapferkeit Anerkennung zu zollen, befahl er, an alle eine Extraportion Spaghetti

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