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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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gegen die Familie hart werden lassen. Nur die Tochter blieb von seinen tyrannischen Ausbrüchen verschont. Die Söhne erinnerten sich an ihre Kindheit in Albträumen, die Nacht um Nacht hartnäckig wiederkehrten.
    Annusjka hatte eine Aura von Mütterlichkeit. Sie war freigebig, fürsorglich und zärtlich; alle in ihrer Umgebung hatten sie gern. Sie sang oft, und die Kinder hörten mit offenem Mund zu. Es klang schön in aller Einfachheit. Sie versorgte die Familie als Wäscherin und bezog ihre Stärke aus der Frömmigkeit der jüdischen Orthodoxie. Harte Arbeit, ständiger Zank, Streit und Gewalt verdunkelten ihr Dasein. Sie war vorzeitig duftlos, vertrocknet, verbraucht. Eines späten Abends, als Ervin sie überfallen und mit harten Schlägen und Fußtritten malträtiert hatte, rief sie Gott an, sagte, sie habe genug und könne ein solches Leben nicht mehr ertragen, und stürzte sich aus dem Fenster. Die Familie wohnte in der fünften Etage. Die Kinder waren wach. Sie wurden Zeugen dieses Geschehens, verwundert, beschämt und schweigend. Franci – wie mein Großonkel in jener Zeit genannt wurde – war sechs Jahre alt. Er begann, Gott zu hassen, der ihm die Mutter genommen hatte, und wurde Bettnässer bis zu seinem zwölften Lebensjahr.
    Obwohl der Tod ihrer liebevollen Mutter ein Stück des Herzens aus der Brust der Kinder riss, wurde in der Familie nicht von ihr gesprochen. Ervin verbot den Kindern, ihren Namen zu nennen. Er war der Meinung, sie habe die Familie im Stich gelassen, denn die erste Pflicht einer Frau sei es, Gattin und Mutter zu sein, wie unglücklich sie auch sein mochte.
    Als die Familienversorgerin fort war, wurde es von Monat zu Monat schwieriger, das Geld für die Miete zusammenzukratzen. Deshalb war die Familie ständig gezwungen umzuziehen. Achtmal in weniger als zwei Jahren mussten die Kinder die Erniedrigung erleben, die es bedeutet, von verschiedenen Hauswirten aus der Wohnung geworfen zu werden. Am Ende landete die Familie Scharf im heruntergekommensten Haus in der ärmsten Straße des jüdischen Ghettos, wo sie mit allen anderen Mietern ein schmutziges Plumpsklo auf dem Hof teilen mussten. Sie wurden Großmutters nächste Nachbarn.
    Die Wohnung war eng und verkommen, und es fehlte an Geld, um zu heizen. Die Rohre froren ein und es gab kein Trinkwasser. Vom Fensterblech hingen Eiszapfen herab, und wenn die Kinder durstig waren, brachen sie einen davon ab und lutschten daran. In den Nächten war die Kälte nicht auszuhalten, und es kamen Ratten ins Haus. Zusammengekauert im Bett, in dem vier Geschwister schliefen, phantasierte Franci von Schätzen und magischen Beschwörungen, die der Familie helfen sollten. Er bildete sich ein, er könne Wunderwerke vollbringen.
DER ARTIST DES PROLETARIATS
    Am Ende erwies das Schicksal Ervin doch noch ein wenig Barmherzigkeit und gönnte ihm ein Erfolgserlebnis.
    Im Frühjahr 1919 ergriffen die Kommunisten die Macht in Ungarn und riefen, zur großen Verwirrung und zum Elend des Volkes, eine kurzlebige Räterepublik aus. Doch nicht die weitverbreitete Angst und das allgemeine Chaos im Lande beschäftigten in diesen Tagen Ervins Gedanken; in seinem Kopf drehte sich alles nur um die eine Frage, ob er dem Druck gewachsen war, wieder auf einer Bühne zu stehen. Ein Bekannter, Regisseur am Vidámszinház, dem komischen Theater, hatte ihm angeboten, als Ersatz in einem burlesken Kabarett einzuspringen. Zu diesem Zeitpunkt war Ervin ziemlich auf den Hund gekommen, vielleicht sogar ein bisschen vom Wahnsinn angefressen. Er bildete sich ein, der Kellner in seinem Lieblingsgasthaus wolle ihn im Auftrag seines aufdringlichen Hauswirts vergiften. Seit mehr als zwanzig Jahren war er nicht mehr in der Nähe einer Bühne gewesen, und das machte ihm Angst. Die Geldnot gab jedoch den Ausschlag; er nahm an.
    Mit schlappohrigem Gesichtsausdruck und einem Akkordeon trat er auf die Bühne. Ohne ein Wort zu sagen und mit ausgesuchten Handbewegungen setzte er sich in die Mitte der Szene und zog zur wachsenden Heiterkeit des Publikums sein Instrument unmäßig weit auseinander. Schließlich sagte er mit sorgenvoller Miene: »Es geht, solange es geht.«
    Das Publikum, das über drastischen Humor verfügte, machte sich die Wendung zu eigen. »Es geht, solange es geht« wurde zum populärsten Schlagwort der Räterepublik. In den Zeitungen erschienen positive Rezensionen. Die Kritiker sprachen von bemerkenswerter Bühnenkunst und lobten Ervins komisches Genie.
    Eines Abends besuchte

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