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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Mädchen in der Umgebung auf, die geheiratet hatten. Viele hatten schon Kinder, einige sogar mehrere. Wollte Elsa nicht heiraten?
    »Du wirst eine unverheiratete alte Jungfer werden, meine Liebe, wenn du es nicht wagst, von zu Hause fortzugehen. Keiner will mich und Großmutter und Tante Mirjam als Mitgift haben und mit uns alten Schachteln zusammen in dieser Bruchbude leben«, sagte sie vorwurfsvoll.
    Luiza beließ es nicht bei Worten, sondern schritt direkt zur Tat. Sie holte alle Sachen der Tochter, packte sie in einen Koffer und stellte ihn vor die Tür.
    Danach gab sie Elsa folgenden Rat: »Es gibt nur eine Art und Weise, einen Mann bei der Stange zu halten, nämlich die Droge des Geschlechts. Wie alle Männer auf der Welt hat auch Franci simple Bedürfnisse. Seine Sinne müssen gekitzelt, sein Körper muss gestreichelt werden. Du musst ihn behandeln wie ein großes Kind. Sieh zu, dass er sich bestätigt fühlt. Mit List und Schmeichelei kannst du vermeiden, dass er die Höhle einer anderen Frau aufsucht.«
    Es wurde ein hastiger Abschied, der in wenigen Minuten vorüber war. Dann nahm das frisch verheiratete Paar, jeder mit einem kleinen Koffer in der Hand, die Trambahn zum Westbahnhof, um nach Wien zu reisen. Froh und erwartungsvoll hörte mein Großonkel die Räder des Zuges über die Eisenbahnbrücke über die Donau rattern und sah Budapest am Horizont verschwinden. Ein paar Stunden später spürte er, wie die Lokomotive langsamer wurde, und betrachtete durch die ungeputzten Fenster des Zweiteklasseabteils die fernen Konturen seiner neuen Heimatstadt.
DER PHRENOLOGE
    Das Paar bezog eine Einzimmerwohnung in einem der ärmsten Arbeiterviertel des Stadtteils Meidling. Sie möblierten die Wohnung, so gut es ging. Als alles an Ort und Stelle war, setzte sich mein Onkel an den Küchentisch und atmete tief durch. Er mochte seinen Augen kaum trauen. Dies war also sein Heim. Er blickte auf seine Hand, die ein Ring zierte. Er war verheiratet, er hatte eine Frau, zwar nicht die, die er liebte, aber jetzt war er auf jeden Fall in Wien und hatte die Möglichkeit, zumindest den zweiten seiner beiden großen Träume zu verwirklichen, und er stellte sich vor, dass das auch seinen Liebeskummer dämpfen würde: nämlich bei dem renommierten Tancred Hauswolff Phrenologie zu studieren – eine neumodische Wissenschaft, die geltend machte, dass der Intellekt, die Instinkte und die Gefühle Organe mit dem Sitz in der Hirnrinde seien, die man berühren und messen könne.
    Sobald wie möglich suchte mein Großonkel Tancred Hauswolff auf. Mit pochendem Herzen und zitternder Hand klingelte er. Eine Hausangestellte öffnete ihm, eine beleibte Frau in den frühen mittleren Jahren. Sie starrte ihn teilnahmslos an und forderte ihn sogleich auf, die Schuhe auszuziehen, sie dulde keine Kratzer auf dem Parkett. Sie strahlte Mündigkeit und Macht aus. Mein Großonkel beugte sich höflich hinab, wie in einer unfreiwilligen Unterwerfungsgeste, und gehorchte ihrem Befehl. Er erstarrte, als er sah, dass sein linker großer Zeh durch ein klaffendes Loch im Strumpf herausguckte.
    Die Hausangestellte schüttelte schicksalsergeben den Kopf und wies ihm den Weg zum Sprechzimmer des berühmten Psychoanalytikers. Es war ein großartiger Raum mit Sitzmöbeln in braunem Leder und kleinen bunten Fischen in schwach beleuchteten Aquarien, einer großen Karte von Kärnten und erotischen Radierungen an den Wänden. Hauswolff, ein Mann mit farblosem, schütterem Haar und dicken Brillengläsern, saß hinter einem großen Schreibtisch und betrachtete ihn mit kaltem Blick.
    »Aber Sie sind doch Jude, junger Mann. Versuchen Sie nicht, es zu verheimlichen. Ich kenne die Juden. Ich habe sie jahrelang studiert. Ich sehe an Ihrer Kopfform und an der Länge des Schädels, dass Sie Jude sind. Ich bin ein gelehrter Mann, Wissenschaftler. Ich weiß, dass Sie Jude sind. Man sieht es ja von weitem.«
    Mein Großonkel war bestürzt, aber er ahnte, dass die Gelegenheit vielleicht nie wiederkommen würde. Also lächelte er freundlich und erklärte schnell, dass er Hauswolffs Schüler werden wolle. Der Psychoanalytiker hörte abwesend zu, konnte aber nicht umhin, die jugendliche Energie, das brennende Interesse, den rätselhaften Intellekt und das warmherzige Wesen seines Besuchers zu bemerken.
    Doch menschliche Qualitäten waren nicht ausreichend, um den Doktor vergessen zu lassen, dass der junge Mann Jude war. »Können Sie denn bezahlen? Haben Sie Geld?«, fragte

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