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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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keine Anlagen, die in eine bestimmte Richtung deuteten. Eine Enttäuschung folgte der anderen. Jedes Mal, wenn er überzeugt war, eine Arbeit zu bekommen, wurde ein anderer bevorzugt. Am Ende wurde er notgedrungen Gepäckträger am Bahnhof. Es war eine anstrengende Arbeit, und der ungewöhnlich kalte Winter machte sie nicht leichter. In der strengen und anhaltenden Kälte fielen Tauben und Spatzen tot von den Bäumen. Als es Frühling wurde, war mein Großonkel mit den Kräften am Ende. Eines Tages zwang ein Hexenschuss ihn dazu, im Bett zu bleiben, und er wurde entlassen.
    Die Geldnot und das ärmliche Leben ließen ihn schwermütig werden. Er fühlte, wie ihm die Zukunft entglitt. Alles erinnerte ihn an die Tristesse seiner Kindheit, und die düsteren Erinnerungen verschlimmerten sein Rückenproblem. Er sah sich als gescheitert an, eingeschlossen in einem engen Gefängnis, und sehnte sich nach Sara. Wenn er nachts darüber nachgrübelte, was sie und ihre Liebe ihm bedeuteten, begann er zu weinen. Er bekam dunkle Ringe unter den Augen. Elsa betrachtete verstohlen, wie er mit jedem Tag, der verging, apathischer wurde.
    Eines Nachmittags klopfte es an der Tür. Es war der Nachbar, der fragte, ob er ein wenig Salz leihen könne. Er hieß Aron Reinherz und war ein frommer Jude aus Galizien. Im Haus kursierten viele Geschichten über ihn. Mein Großonkel und Elsa hatten ihre eigenen Sorgen und waren nicht an Klatsch interessiert. Einiges vom Gerede der Nachbarn bekamen sie dennoch mit.
    Aron Reinherz stand in dem Ruf, ein guter Mensch zu sein, der im Leben kein Glück gehabt hatte. Seine einzige Tochter war zur Mikwe gegangen, dem rituellen Bad, hatte Krämpfe bekommen und war ertrunken. Der ältere seiner beiden Söhne war im Krieg an der italienischen Front gefallen, der jüngere war an der Spanischen Grippe gestorben. Der Verlust traf seine Frau so hart, dass ihr das Herz versagte. Aber Aron Reinherz war stets guter Laune und zu Scherzen aufgelegt.
    Er war gedankenschnell und man brauchte ihm nie etwas zu erklären. Er wusste einfach alles. Dabei war er kein Philosoph, sondern nur ein einfacher Herrenschneider. Er erkannte sogleich die prekäre Lage meines Großonkels und versprach, ihm eine Arbeit bei seinem Cousin zu besorgen, der eigentlich Herschele Jankelevitj hieß, in Wien aber unter dem Namen Hermann Jack bekannt war.
ZIRKUS JACK
    Als mein Großonkel merklich nervös zum Zirkus Jack kam, konnte er sich kaum einen fremderen Ort vorstellen und rechnete nicht damit, eine Arbeit zu finden. Er trat in das große Zirkuszelt ein und fühlte sich in eine andere Welt versetzt. Hier drinnen herrschte eine ausgelassene Stimmung. Eine Handvoll Personen saß an einem langen gedeckten Tisch in der Manege, sie aßen und tranken nach Herzenslust, während ein Riese mit einem enormen Schnauzbart und buschigen Augenbrauen etwas auf Russisch erzählte, allem Anschein nach witzige Geschichten. Die Gesichter der Menschen strahlten eine Art Noblesse aus. Mein Großonkel spürte sofort, dass es hier etwas gab, was er in Wien lange vermisst hatte – Wärme, Humor und Kameradschaft.
    Eine grauhaarige väterliche Gestalt mit stahlgefasster Brille, die tief unten auf der Nase saß, stand vom Tisch auf und stellte sich als Hermann Jack vor. Mit liebenswertem Lächeln hieß er den Besucher willkommen und lud ihn ein, am Tisch Platz zu nehmen. Bevor mein Großonkel sich setzte, sagte er, er heiße Franz Scharf und komme aus Budapest. Ein älterer Mann fragte ihn, ob er mit Andrej Scharf verwandt sei. Als er antwortete, Andrej Scharf sei sein Großvater, brachte der Mann seine tiefe Bewunderung für den Theatermann in Budapest zum Ausdruck und bot ihm ein Glas eines schmackhaften, überaus alkoholhaltigen Getränks an, das er selbst destilliert hatte. Mein Großonkel musste auch verschiedene delikate Würste und Käse kosten. Alle, die um den Tisch saßen, behandelten ihn wie einen guten alten Bekannten.
    Nachdem er viel und herzlich gelacht und weitere zwei Gläser des starken Getränks genossen hatte, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sagte, an Hermann Jack gewandt, hoffnungsvoll: »Es ist lange her, dass ich mich so wohl gefühlt habe. Bei Ihnen fühle ich mich wie zu Hause. Es ist vielleicht dreist von mir, zu fragen, ob Sie möglicherweise eine Beschäftigung haben, die ich für Sie ausüben könnte.« Er fügte hinzu, dass seine Versuche, sich in Wien zu etablieren und eine Arbeit zu finden, misslungen waren.
    Der Zirkusdirektor

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