Das Elixier der Unsterblichkeit
auszubrechen.
»Wer kann die Trauer eines jungen Mannes lindern, wenn er von Liebeskummer befallen ist? Ein älterer erfahrener Freund kann das. Denn ein älterer erfahrener Freund mit wachsamen Augen weiß, dass ein junger Mann eines Schutzes bedarf, dass alles im Leben von Stärke und Geborgenheit abhängt«, erklärte der Baron.
Darauf gab der Baron, um die Stimmung aufzuhellen, eine Reihe interessanter Informationen zum Besten. Er entstammte einem bekannten Adelsgeschlecht und wusste so manches über prominente Schriftsteller und Politiker, ihr Tun und Lassen, ihr Privatleben, sogar über ihre geheimen Wünsche. Er senkte die Stimme und erzählte, dass Gyula Krúdy, zwei Tische weiter, sich lieber duellierte als Bücher schrieb, dass er stets ganz erregt wurde, wenn er sich in Gesellschaft jüngerer Damen befand, und gern mit zwei Frauen gleichzeitig ins Bett ging – am liebsten mit Haushälterinnen, weil seine Mutter eine gewesen sei. Der Baron sprach auch über Traditionen, die Jagd, über Moral und die gefallene kommunistische Regierung, von der er wenig Gutes zu sagen hatte. Seine Worte waren in den weichsten Samt der Sprache gehüllt. Ein übers andere Mal wiederholte er, dass ein junger Mann sich hier in Budapest nicht hocharbeiten könne, dass man ohne Beziehungen und Schutz nichts erreiche, man müsse zur richtigen Gruppe gehören und mächtige Personen kennen.
»Macht«, betonte er, »ist in Ungarn das Gleiche wie Recht. Lebt man im Schlagschatten starker wirtschaftlicher Begrenzungen, ist es von unschätzbarem Wert, einen Beschützer mit Reichtümern und Kontakten zu haben. Nichts kann für den Weg eines strebsamen jungen Mannes in den schönen Tempel der Macht von größerem Vorteil sein als ein Beschützer.«
Der Baron streichelte meinem Großonkel vorsichtig die Innenseite des Schenkels und erbot sich, im Austausch dafür, dass sie eine intimere Bekanntschaft eingingen, seinen Einfluss zur Förderung der Karriere seines jungen Freundes geltend zu machen. Die Berührung durch die Finger des Barons kam für meinen Großonkel wie ein Schock, er war angeekelt, fühlte sich erniedrigt und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Aufstehen und gehen? Oder bleiben und so tun, als wäre nichts?
Er sah dem Baron direkt ins Gesicht und sammelte seine Fähigkeit, Mut vorzutäuschen. »Nehmen Sie Ihre manikürten Finger von meinen Schenkeln! Hinter Ihrer eleganten Baronsfassade sind Sie ein simples Schwein«, sagte er mit lauter Stimme und ging schnell davon.
Danach streifte er im Nieselregen stundenlang planlos durch die Innenstadt. Er fühlte, dass ihm der feste Halt im Dasein abhandengekommen war und sein Leben in Leere abzugleiten drohte. Eine innere Stimme sagte ihm, er müsse einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Nicht die Zukunft lag im Dunkeln, sondern das Gestern. Es durfte nicht sein, hielt die innere Stimme ihm vor, dass man mit etwas über zwanzig Jahren aus Liebeskummer weniger lebendig war als die Leichen in den Bergschluchten von Doberdò. Er suchte etwas, an das er glauben konnte. Die Phrenologie. Sie konnte ihm vielleicht eine Zuflucht vor der Trauer bieten. Aber dann musste er nach Wien gehen. Er dachte, dass die Begegnung mit dem Baron, der ihn unanständig berührt hatte, vom Schicksal bestimmt war, denn der Vorfall flößte ihm einen starken Widerwillen gegen das Leben im dekadenten Budapest ein.
In dieser Nacht beschloss er, seine Geburtsstadt zu verlassen.
Es war nicht leicht, Elsa zum Umzug nach Wien zu überreden. Sie wollte das Heim, in dem sie ihr ganzes Leben mit ihrer Mutter und Großmutter, ihren vier Geschwistern sowie Tante Mirjam und deren Tochter Sara verbracht hatte, nicht verlassen. Mein Großonkel erklärte ihr ruhig und ohne sich aufzuregen, dass er es in der kleinen Wohnung von weniger als dreißig Quadratmetern, in eineinhalb Zimmern, ständig überwacht von sieben anderen Personen, nie und nimmer aushalten würde.
Es war nicht schwer zu begreifen, was mein Großonkel am meisten fürchtete, auch wenn er Elsa dieses Detail ersparte. Allein der Gedanke, eines Tages Sara zu treffen und ihren runden Bauch zu sehen, jagte ihm einen Schrecken ein. Sie und ihr Mann hatten sich zwar in einem entlegenen Arbeitervorort niedergelassen, aber er rechnete damit, dass sie in Kürze ihre Mutter in der Wohnung besuchen würde.
Unerwartet leistete Luiza, Elsas Mutter, ihm Hilfestellung. Sie sah, wie ihre Tochter sich quälte, und zählte rasch alle gleichaltrigen
Weitere Kostenlose Bücher