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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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zeigte auf ein Plakat an der Wand, auf dem ein großes Clownsgesicht mit roter Nase und halb trauriger, halb fröhlicher Miene zu sehen war. Er sagte: »André, unser geliebter Freund, das Zugpferd unseres Unternehmens, ist einer höheren Berufung gefolgt. Er befindet sich nunmehr unter den Engeln und bringt sie zum Lachen. Er ist nach einer Gallensteinoperation nicht mehr aus der Narkose aufgewacht. Du wirst ihn ersetzen. Um ein guter Clown zu sein, bedarf es eines gewissen Alters und einer gehörigen Portion schmerzlicher Lebenserfahrung. Du bist zwar noch jung, aber an deinen Augen sehe ich, dass tragische Ereignisse deinem Leben nicht erspart geblieben sind. Dein Schicksal trägt alle Möglichkeiten des Scheiterns in sich. Deshalb sage ich dir eine Zukunft in der Zirkusbranche voraus. Wir werden dir beibringen zu zaubern, und noch vieles mehr. Von nun an wirst du Fernando heißen.«
    Zirkus Jack gehörte zu Wiens populärsten volkstümlichen Vergnügungsetablissements. Hier konnte das Publikum, das hauptsächlich aus kinderreichen Familien aus der Arbeiterklasse bestand, sich an anderem ergötzen als den Amateurartisten, die man von den Wanderzirkussen in den Vororten her kannte. Hermann Jack war es gelungen, mehrere internationale Stars, die ohne Konkurrenz waren, an seinen Zirkus zu binden: die bärtigen neapolitanischen Schwestern mit üppigen Brüsten und schwellenden Hinterteilen, die auf Einrädern durch die Manege fuhren und dabei mit unverstellter Freude romantische italienische Arien sangen; den kleinsten Zwerg der Welt, der als römischer Senator gekleidet und mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf als Triumphator in einem von vier Islandpferden gezogenen Wagen im Kreis herumfuhr; den einbeinigen englischen Seemann George, der aus einer Kanone geschossen wurde und sich in Luft auflöste; den russischen Riesen Oleg, der lebende Mäuse schluckte, starke Ketten mit den Zähnen zerbiss und sich von einem Bus überfahren ließ, in dem zwanzig Personen saßen; die italienischen Drillinge Uno, Bruno und Duno, die halsbrecherische akrobatische Kunststücke vollführten. Zum Repertoire gehörten auch waghalsige Seiltänzer, indische Schlangenbeschwörer, Trapezartisten und Löwenbändiger. Nicht weniger imponierend war die Sammlung von seltsamen Tieren, die Zirkus Jack zeigen konnte: ein fettes Schwein mit fünf Beinen, ein paar kleinwüchsige Lipizzaner und ein unwiderstehlich liebenswerter kleiner Affe mit ungewöhnlich langen Armen.
    Mein Großonkel arbeitete als Clown und Zauberer. Sechs Tage in der Woche stand er in der Manege, mit roter Kartoffelnase, leuchtend gelber Perücke, viel zu großen Schuhen und einem enormen Bauch, der ihn so aussehen ließ, als hätte er drei Dutzend Billardkugeln verschluckt. Anfangs war seine Haltung ungeschickt und die Choreographie stümperhaft. Aber er übte seine Nummer unzählige Male und arbeitete intensiv daran, sie zu perfektionieren; er hatte den Ehrgeiz, seine Kunst auf ein Niveau zu heben, das über dem geschickter Illusionisten lag. Er begann seinen Auftritt mit dem Vorweisen seines leeren schwarzen Zylinders und dessen weißem Inneren. Nachdem er auf diese Weise seine Kunst über alle Zweifel und über jeglichen Verdacht betrügerischer Manipulationen erhoben hatte, zeichnete er mit einem Zauberstab komplizierte magische Zeichen in die Luft und begann, mit übertriebener Präzision und Anschaulichkeit, farbenfrohe Papierbänder aus dem Hut zu ziehen. Die ganze Manege füllte sich mit der raschelnden Masse, die kein Ende zu nehmen schien.
    Fernando bekam stets tosenden Applaus, weniger für seine Zauberkünste als für seine liebenswerten Albernheiten, die das Kindliche in den Besuchern ansprachen und sie zum Lachen brachten.
EINE UNGLÜCKLICHE EHE
    Elsa teilte die Begeisterung ihres Mannes für das Zirkusleben nicht. Sie verstand nicht, wie er sich in dieser Ansammlung von – wie sie es nannte – lächerlichen Existenzen wohl fühlen konnte.
    Sie selbst saß den ganzen Tag geduldig zu Hause und wartete auf ihn. Am Fenster in der Küche surrte von früh bis spät die alte Nähmaschine, die er für sie auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Sie nähte Damenblusen für einen Laden. Sie sprach schlecht Deutsch, es gab viel zu viele Wörter, die sie nicht kannte, und deshalb schämte sie sich. Sie wagte selten, aus dem Haus zu gehen, besonders nachdem sie Asthma bekommen hatte und ihre Sehkraft nachließ. Die Jahre vergingen, und an ihrer Isolierung von allem und allen

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