Das Elixier der Unsterblichkeit
Matineevorstellung nach Hause zu gehen. Stattdessen verbrachte er seine freien Stunden in der nahe gelegenen Bierstube Waldvogel. Er kam stets um die gleiche Zeit und setzte sich immer an denselben Tisch. Er bestellte das billigste Getränk, und weil er mäßig war im Umgang mit Alkohol, trank er höchstens ein Bier. Er hatte immer ein Schachspiel bei sich, und meist gab es jemanden, mit dem er spielen konnte.
Für viele Menschen ist das Schachspiel eine Art Rausch- und Fluchtmittel. So verhielt es sich damals mit meinem Großonkel. Er hatte als Zehnjähriger das Schachspielen von einem Nachbarn in ihrem jüdischen Armenviertel gelernt, einem mageren Schlachter. Der Schlachter war ein gutherziger Mensch, nicht wie Francis Vater, der ständig betrunken war und die Kinder mit Schreien und Zornausbrüchen einschüchterte. Ein aufmunterndes Wort, ein Schulterklopfen und ein freundlicher Blick hätten Franci bewegen können, alles Erdenkliche zu schaffen. Die Erziehungsmethoden des Vaters verhinderten dies alles. Der Schlachter hingegen behandelte die Kinder mit Wärme und weihte die kleinen Jungen in die verzauberte Welt des Schachspiels ein. Da Franci über eine lebhafte Phantasie verfügte, liebte er das Spiel, wenngleich die Spieleröffnungstheorie ihn langweilte. Nach dem Tod des Schlachters hörten die Kinder auf, Schach zu spielen, und kehrten sich wieder der tristen Wirklichkeit zu. Aber mein Großonkel vergaß nie das Glück, das der Umgang mit den schwarzen und weißen Figuren ihn hatte erleben lassen.
Er ging in die Bierstube Waldvogel, um Schach zu spielen, aber er suchte auch das Gespräch mit den Menschen. Mit übergeschlagenen Beinen, eine Zigarette im Mundwinkel, hin und wieder an seinem Bier nippend, saß er lässig auf einem Stuhl und überhäufte seine neuen Freunde mit Fragen, warum sie nach Wien gekommen waren und was sie in der Stadt trieben; dann ging er nach und nach zu ihrer Vergangenheit über, aber auch zu ihren politischen Ansichten.
Über sich selbst sagte er nicht viel, und wenn man ihm das vorwarf, zeigte er stets ein entwaffnendes Lächeln: »Wenn Sie etwas über mein Leben erfahren würden«, pflegte er zu sagen, »hätten Sie keine Freude daran, denn mein Dasein ist ereignisarm und uninteressant.«
Die gemütliche Bierstube war ein Treffpunkt für männliche osteuropäische Emigranten, gebeutelte Existenzen, die sich die Tage mit Schachspielen und politischen Diskussionen vertrieben. In einer immer zersplitterter und komplizierter werdenden Welt widmeten sich diese Männer kühnen Gedankenspielen und priesen probate Heilmittel gegen jede Art von Übel an. Einige predigten den Anarchismus, andere den Marxismus. Manche setzten ihre Hoffnung auf den Zionismus, während die Sozialisten behaupteten, Lenin sei nicht so schlecht, wie die bürgerliche Presse in Wien ihn darstelle. Wieder andere erhofften von der Psychoanalyse die Rettung der Menschheit, andere befürworteten Terror als Waffe gegen unterdrückende Obrigkeiten.
Jeden Dienstagabend füllte sich die Bierstube mit einer Gruppe jüngerer Männer, schwärmerischen Dichtern, die frisch gebrautes Bier tranken, ohne ein Maß zu kennen, und davon träumten, die Dichtung zu erneuern. Sie wollten ihr Kraft und Kühnheit eingeben, die ihrer Meinung nach verlorengegangen waren. Sie huldigten der Jugend, die all das Lächerliche in den gegenwärtigen Vorstellungen und Strukturen wegblasen würde. Sie riefen die todbringende Schönheit des Blitzes an und hofften, dass der Himmel dem Schicksal, das nicht länger abwendbar war, freien Lauf ließe. Es ging hoch her, wenn sie einander ihre letzten Erzeugnisse vortrugen. Fast jede Woche fiel jemand vor Erregung in Ohnmacht.
Woche für Woche hörte sich der Inhaber Julius Waldvogel gelangweilt die vorgetragenen Gedichte an. Er machte kein Hehl aus seiner Meinung: Die Phantasien der jungen Dichter über die Unsterblichkeit der Seele und den herannahenden Sturm fand er lachhaft, aber ihre Anwesenheit war von großer Bedeutung für die Kasse. Gegen Mitternacht, wenn es Zeit war zu schließen, stellte sich Waldvogel auf einen Stuhl, während ein Dutzend leere Bierseidel an seinen gekrümmten Fingern hingen, und brüllte: »Schluss für heute mit eurem Gesabbel! Geht nach Hause und tut etwas Vernünftiges!«
Dann machte er die Lampen aus.
Eines Dienstagabends fand ein klapperdürrer junger Poet aus Salzburg mit lockigem Haar und weißer Haut ein trauriges Ende in der Bierstube Waldvogel. Als er
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