Das Elixier der Unsterblichkeit
Eckplatz, still und in sich versunken, ausgelaugt von schlaflosen Nächten und verqualmt von hunderten nächtlicher Zigaretten. Er steckte in einem großen Dilemma. Alle wussten, dass die Geschäfte schlecht gingen: Die leeren Bankreihen sprachen eine deutliche Sprache. Außerdem konnte niemand umhin zu bemerken, dass der Direktor zerstreut und besorgt war und dass seine Augen geröteter waren denn je. Er hatte lange sein Bestes getan, um die Belegschaft des Zirkus darüber im Unklaren zu lassen, wie schlimm es eigentlich stand. In einem letzten verzweifelten Versuch, die Finanzen in Ordnung zu bringen, war er nach Budapest gefahren, um Kreditgeber zu finden, nachdem ein ungarischer Freund ihm versprochen hatte, wertvolle Kontakte zu vermitteln. Keiner seiner Wiener Gläubiger war mehr willens, ihn zu unterstützen. Sie hatten beachtlich lange Geduld mit Hermann Jack bewiesen und angesichts seiner Unfähigkeit, die Kreditzinsen zu bezahlen, die Augen zugedrückt. Aber jetzt erhielt er immer mehr Briefe mit Beleidigungen und Drohungen. Die Wirtschaftskrise hatte in aller Taschen große Löcher gerissen, und unter Kreditgebern herrschte eine auffallend kühle Stimmung. Die meisten hatten den Gedanken fallen lassen, weitere Zahlungsfristen zu bewilligen. Spätestens am 14. September 1931 wollten sie ihr Geld sehen, sonst würde der Zirkus Jack unwiderruflich in Konkurs gehen. Nach seinen ergebnislosen Gesprächen in Budapest hatte Hermann Jack nur sechsunddreißig Stunden Zeit, das Problem zu lösen.
Er schloss die Augen und hörte das Geräusch von etwas, was ihm vorkam wie ein Wahnsinnsrad, das davonrollte und ihn und den Zirkus gnadenlos dem Untergang zuführte. In diesem Moment reifte der Entschluss in ihm. Er hatte weder Frau noch Kinder; seine Familie war der Zirkus. Am nächsten Vormittag würde er eine hohe Lebensversicherung abschließen und am Abend Selbstmord begehen. Der Zirkus wäre gerettet, und er würde seine Freunde und Angestellten nicht im Stich lassen.
Als Hermann Jack sich fragte, ob er Angst hatte zu sterben, musste er sich eingestehen, dass er leider nie ein besonders mutiger Mann gewesen war, dass er mehr Angst vor physischen Schmerzen hatte als vor irgendetwas anderem, und er sah ein, dass er eine schnelle und einfache Methode suchen musste, um sich das Leben zu nehmen. Im nächsten Augenblick hörte er einen gewaltigen Knall und empfand für ein Tausendstel einer Sekunde eine seltsame Schwerelosigkeit.
Exakt zwanzig Minuten nach Mitternacht am 13. September 1931 wurde der Wienexpress bei dem Eisenbahnviadukt in der Nähe der kleinen Stadt Biatorbágy, dreißig Kilometer westlich von Budapest, in die Luft gesprengt. Die Lok und die sechs ersten Wagen stürzten in die Tiefe. In den schwer zerstörten und ausgebrannten Wagen fanden die Rettungsmannschaften am nächsten Morgen zweiundzwanzig stark entstellte Leichen. Eine dieser Leichen trug am rechten Mittelfinger einen Siegelring mit dem eingravierten Monogramm HJ.
Kaum hatten die Leute erfahren, dass Hermann Jack tot war, brach im Zirkus Jack heftiger Streit aus. Es ging weniger um den unmittelbaren Konkurs, denn keiner hatte sich bezüglich der finanziellen Lage irgendwelchen Illusionen hingegeben, sondern darum, ob Hermann Jack Jude war oder Katholik. Wo sollte sein zur Unkenntlichkeit verbrannter Körper begraben werden, wenn es denn seiner war? Der Zirkus spaltete sich in zwei Lager. Schließlich wurde der gordische Knoten von dem russischen Riesen Oleg zerschlagen, der ein nichtreligiöses Begräbnis auf einem protestantischen Friedhof vorschlug; nach stundenlangen Diskussionen schlossen sich alle diesem Vorschlag an.
Mehrere hundert Menschen kamen zur Beerdigung. Mein Großonkel stand stumm und verfroren in seinem schwarzen Anzug da. Er konnte keinen einzigen Seufzer hervorbringen, denn die ganze Situation war unwirklich. Zwar empfand er Trauer über den Verlust seines Freundes und Mentors, der als verkohltes Skelett dort im Sarg lag. Aber um sich herum bemerkte er Menschen, die er noch nie gesehen hatte und die vor Trauer laut jammerten und ihren locker sitzenden Tränen freien Lauf ließen.
Als ein katholischer Priester – es war Hermann Jacks in der Kindheit konvertierter Neffe – ans Grab trat, begannen die Juden lautstark aufzubegehren. Alle ahnten, dass sich etwas Verblüffendes anbahnte. Im Laufe weniger Sekunden brach eine blutige Schlägerei zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen aus, und langjährige
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