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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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zu weltweiten Protesten; in Wien schlossen sich siebzigtausend Menschen zu einem Schweigemarsch zusammen. Vergeblich. Der Richter weigerte sich, den Fall wieder aufzunehmen. Aufgrund ihrer unbequemen politischen Ansichten und eines allgemeinen Fremdenhasses war das Urteil über Sacco und Vanzetti schon im voraus gefällt. Im August wurden alle Träume von Gerechtigkeit endgültig zunichte. Die bedauernswerten Anarchisten wurden auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.
    Mein Großonkel empfand starke Sympathie für die beiden Italiener und ihre Familien. Er las alles, was er in den Zeitungen über ihr Schicksal finden konnte. An mehreren Stellen stieß er auf den Namen Bakunin, der als Leitstern der Anarchisten beschrieben wurde. Der Name kam ihm bekannt vor, ohne dass es ihm gelang, ihn einzuordnen.
    In Fernandos Elternhaus redete man nicht über den Großvater. Das Thema war tabu. Sein Vater verabscheute den berühmten Theatermann, der sich weigerte, ihn zu treffen. Aber irgendwo musste mein Großonkel trotzdem einiges über seinen Großvater aufgeschnappt haben, denn als er eines Tages ein Bild des russischen Anarchisten in der Zeitung sah, stand die Erinnerung plötzlich klar vor ihm: Er hatte gehört, dass Andrej Scharf in seinen jungen Jahren in Sibirien Bakunins Schüler gewesen war. Als er an seinen Großvater dachte, wurde ihm plötzlich klar, wie wenig er tatsächlich über die Vergangenheit wusste. Er konnte sich nicht einmal an das Gesicht seiner Mutter erinnern.
    In der Österreichischen Nationalbibliothek fand er Bakunins sämtliche Schriften in deutscher Übersetzung. Er stürzte sich Hals über Kopf in die Bibel des Anarchismus, in der Seite für Seite von Ungehorsam die Rede war. Er las: »… die wirklich allgemeingültige Wissenschaft, die das Universum vollkommen, in seiner ganzen Ausdehnung und in all seinen unendlichen Details, wiedergeben würde, das System oder das Zusammenwirken aller Naturgesetze, die sich in der unaufhörlichen Entwicklung der Welten manifestieren …« Verwundert schüttelte er den Kopf und blätterte weiter. Weil er nicht viel begriff, fand er Bakunins Bücher ermüdend und gab sie zurück.
    Nach dem »Schwarzen Freitag« – als er tagtäglich Zeuge wurde, wie gut ausgebildete Akademiker Stunde um Stunde geduldig in den Essensschlangen der Wohltätigkeitseinrichtungen warteten – ging er erneut zur Bibliothek, um mehr gesellschaftskritische Literatur auszuleihen. Dabei half ihm, wenn auch widerwillig, eine blasse und durchsichtig wirkende Frau mit jenem steifen Lächeln, das von Bitterkeit oder trostloser Einsamkeit zeugt. Er kam mit dem Arm voller Bücher nach Hause. Den Unterschied zwischen Rosa Luxemburgs und Trotzkis Schriften nahm er nur dunkel wahr. Fast alles war schwer verständlich. Aber er entdeckte den Sozialismus und erfuhr, dass die Weltordnung des Kapitalismus ungerecht war.
    Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass das Leben und die Gesellschaft seiner Mutter mehr hätten bieten können als die endlose Schinderei mit seinem Vater – einem resignierten und alkoholkranken Menschen, den sein Mangel an Talent und ein herzloser Vater fürs Leben gebrochen hatten.
    Dann kam Antonio Gramsci in sein Leben. Die Schlagworte von Solidarität mit den arbeitenden Massen machten großen Eindruck auf ihn, die großen Worte von Freiheit und Individualismus nicht minder. Er verschlang die Gefängnishefte des Italieners, die auf geheimen Wegen aus dem faschistischen Gefängnis, in dem er saß, herausgeschmuggelt worden waren. Gramsci versah ihn mit einem Schlüssel, mit dessen Hilfe er alle Schlösser öffnen und die Welt verstehen konnte. Der Ton war barsch. Zugleich strahlte der gefangene politische Denker – obwohl er physisch gebrochen, von Krankheiten gequält und des Kontakts mit der Außenwelt beraubt war – Sicherheit aus. Alles hatte eine Erklärung, man musste nur über eine klare Geschichtsauffassung verfügen.
    Mein Großonkel besuchte die Bierstube Waldvogel nicht mehr. Dort hatte sich fast alles verändert. Die gemütliche Atmosphäre war verschwunden, die osteuropäischen Emigranten kamen nicht mehr, niemand spielte mehr Schach. Auch der Inhaber, der dicke Julius, war nicht mehr da; er war gestorben, kurz nachdem seine bedeutend jüngere Frau Hildegard mit einem Bierkutscher durchgebrannt war. Die Bierschwemme wurde jetzt von seinem Neffen Ernst betrieben, der sich mehr für Rennpferde interessierte als für die Gäste. Die Poeten rezitierten an den

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