Das Elixier der Unsterblichkeit
Fäusten. Er wollte über den Kerl herfallen und fühlte, dass er ihn umbringen musste. Es war wie ein Anfall von Wahnsinn, ein Hass, den er nicht unterdrücken konnte. Einen Augenblick lang gab er fast dem Impuls nach, die Hände auszustrecken und dem Georgier damit an die Kehle zu gehen. Aber er sah ein, dass zu viele Zeugen im Lokal waren, und konnte sich beherrschen.
Kurz danach verließen Trotzki und sein Gast das Wirtshaus. Adi folgte ihnen, in der Absicht zu töten. In der kalten Luft kam er indessen zur Besinnung und beruhigte sich ein wenig. Als er in die Bierstube zurückkam, schrie er so laut, dass es alle hören konnten, er hasse Leute aus Osteuropa. Seine Haartolle flatterte, seine Hände zuckten wirr, und seine Stimme stieg zum Falsett, als er versprach, den pockennarbigen Georgier mit dem kräftigen Schnauzbart eines Tages umzubringen.
Alle wussten, dass Adis Ausbrüche und sein lächerliches Brüllen nicht gut fürs Geschäft waren. Nach dem seltsamen Auftritt erteilte Julius Waldvogel ihm Hausverbot.
Ich weiß nicht genau, wann mein Großonkel und Frombichler sich zum ersten Mal begegneten. Dagegen erinnere ich mich daran, dass er Frombichler am Anfang ziemlich irritierend fand. Es störte ihn, dass dieser während der Schachpartien plötzlich anfing, von Adi zu plappern. Die geläuterteren osteuropäischen Emigranten hatten nur ein mildes Lächeln für Frombichler übrig, wenn er ungebeten die Weltverbesserungsvisionen seines Freundes aufs Tapet brachte, und die meisten vermieden es, mit ihm zu spielen.
Adi hatte in der Schlussphase des Krieges mit einer Senfgasvergiftung im Lazarett gelegen und viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Er hatte seine Mappe mit Zeichnungen in jedem größeren Architekturbüro in Wien vorgelegt, ohne eine Anstellung zu bekommen. Auch seine Aquarelle hatten keine Galerie interessiert. Er war tief enttäuscht von seinen österreichischen Landsleuten. Sie seien offensichtlich degeneriert, behauptete er und siedelte nach München um, wohin es ihn insgeheim schon seit seiner Jugend gezogen hatte.
In seiner neuen Heimat hatte er Pinsel und Palette zur Seite gelegt, da die ausgebliebenen Erfolge davon zeugten, dass er als Künstler keine Zukunft hatte. Stattdessen versuchte er sein Glück in der Politik als Vorsitzender einer neu gegründeten deutschen Partei. Mit zischenden Konsonanten und dröhnenden Vokalen schleuderte er Tiraden über Moral, Rassenreinheit, die Aufgabe der Deutschen und den Verrat der Slawen um sich.
Frombichler zufolge gab Adi der Arbeiterklasse in Deutschland, die ihm zufolge von Alkoholismus, Syphilis, Tuberkulose und Nervenkrankheiten befallen war, die Hoffnung zurück. Er war der Meinung, sein Freund habe durch sein energisches Auftreten in mehreren bayerischen Wirtshäusern erreicht, dass all jenen, die ihn verhöhnt hatten, weil er klein war und einen albernen Schnauzbart trug, das Lachen im Halse steckenblieb. Bei seiner unerhörten Macht über die Sinne werde es noch dahin kommen, dass ihm die ganze deutsche Nation zu Füßen liege. Frombichler ging sogar so weit, eine Weltrevolution unter der Führung seines Freundes vorherzusagen, eine Revolution, die Begriffe wie »mein« und »dein« aus dem Bewusstsein der Menschen auslöschen würde. Er sprach von dem Feuersturm, den Adi mit seiner unbändigen Willensstärke in Gang gesetzt habe und der auch den Unterprivilegierten in den bedrückendsten Slumgegenden das Gefühl eines neuen Sinns einbrennen würde.
»Bald ist die Zeit vorbei«, sagte er, »da die Arbeiter es dabei bewenden lassen, arm, stumm und passiv zu sein. Man muss nur auf meinen Freund Adi hören und furchtlos sein Denkvermögen nutzen. Schach zu spielen ist eine gute Methode, seine Sinne zu schärfen.«
Nach einem misslungenen Putschversuch war Adi im Gefängnis gelandet. Frombichler redete auf einmal nicht mehr so oft von ihm, und wenn er es doch tat, war seine Stimme trocken und entbehrte jeden Anflugs der früheren Begeisterung. In der Bierstube konnte man verstehen, dass er verbittert war über den Freund in München, der statt des Klassenkampfs einen antisemitischen Teufelsmythos entwickelt hatte: die Vorstellung vom Juden, der zunächst in Gestalt der bürgerlichen Klasse und dann in Gestalt des Marxismus die Weltherrschaft anstrebt. Als Sohn einer jüdischen Mutter war Frombichler enttäuscht, als er entdeckte, dass Adis Antisemitismus nicht nur ein billiges Ablenkungsmanöver für die Unzufriedenheit des Volkes, sondern in
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