Das Elixier der Unsterblichkeit
Wirklichkeit der Kern der politischen Mission des Freundes war. Jetzt quälte er stattdessen seine Schachgegner mit Geschichten über seine Familie.
FROMBICHLER UND SEINE FAMILIE
Frombichler war ein Mann von massivem Körperbau, ein Bauernsohn, dem früh eingetrichtert worden war, dass Brot und Speck wichtiger sind als alle anderen Lebensmittel. Sein Gesicht war rund, der Kopf kahl, die Augenbrauen waren zusammengewachsen, und sein kräftiger Nacken wies tiefe Falten auf. Einer seiner Füße war missgebildet und schien nicht zum Gehen gemacht zu sein. Wenn Frombichler sich vom Schachbrett erhob und zur Toilette wanderte, bot er einen seltsamen Anblick. Aber in der Küche des Hotel Imperial, wo er als Koch arbeitete, war er beweglich, geschmeidig, einem Leben an den Töpfen angepasst.
Manchmal wurde mein Großonkel von dem dunklen Verdacht befallen, dass Frombichler nicht immer die Wahrheit sagte, nicht weil er glaubte, dass Mathäus ein Lügner oder Mythomane wäre, aber viele Ereignisse in der Geschichte seiner Familie waren so merkwürdig, dass es schwerfiel, sich vorzustellen, sie hätten wirklich passieren können.
Karl, der als Erster den Familiennamen Frombichler trug, heiratete im Jahre 1601, und weil die Mitgift seiner Frau aus mehreren Hektar fruchtbarem Boden bestand, ließ er sich in dem Dorf Güttenbach im Burgenland nieder. Hier bestellten seine Nachkommen, freie Bauern mit uralten Tugenden und Ehrbegriffen, in den folgenden Jahrhunderten ihren Boden. Das Geschlecht der Mutter war nicht so bodenständig; sie entstammte einer jüdischen Familie und war auf dem prachtvollen Schloss Biederhof aufgewachsen, vierzig Kilometer südöstlich von Wien. Der Großvater mütterlicherseits soll Finanzminister in der Doppelmonarchie und ein Vertrauter von Kaiser Franz Joseph gewesen sein. Davon abgesehen hatte die Familie, die mehrere berühmte Philosophen zu ihren Vorfahren zählte, ein unstetes Wanderleben in Europa geführt.
»Über meine jüdische Familie könnte man nicht nur ein Buch schreiben«, versicherte Frombichler, »sondern eine ganze Sammlung. Du ahnst nicht, was für Legenden es in der Familie Spinoza gibt. Die Phantasien von Schriftstellern sind Kinderkram verglichen mit dem, was meinen Vorvätern in früheren Generationen widerfahren ist. Die Wirklichkeit übertrifft die Phantasie. Wenn man weiß, was geschehen ist, braucht man keine Geschichten zusammenzudichten. Außerdem ist es leichter, einen Lügner einzuholen als einen lahmen Hund.«
Was ernsthaft das Interesse meines Großonkels für diese Geschichten weckte, war die Tatsache, dass Frombichler einmal zufällig erwähnte, er habe ein paar Cousins und Cousinen in Budapest. Aber er fügte gleich hinzu, dass er sich nicht viel aus der Familie mache, denn als das Vermögen seines Großvaters mütterlicherseits aufgeteilt worden sei, hätten seine Onkel sich nicht von irgendwelchen brüderlichen Gefühlen leiten lassen. Seine Mutter sei vom Erbe ausgeschlossen worden, weil sie sich mit einem Nichtjuden verheiratet hatte, noch dazu einem Bauernsohn. Er sei besonders wütend auf seinen Cousin Nathan, der sich, nach seinem Dafürhalten gänzlich unberechtigt, das Kleinod der Familie zugeschanzt habe: das unschätzbar wertvolle Buch
Das Elixier der Unsterblichkeit
des Philosophen Benjamin Spinoza.
»Nathan? Du meinst doch nicht Nathan Spinoza?«, fragte mein Großonkel mit klopfendem Herzen. »Den Nathan Spinoza, der mit Sara Neumann verheiratet ist?«
»Doch, das ist mein Cousin … Kennst du ihn?«
»Nein, ich kenne ihn nicht. Ich bin ihm nie begegnet. Aber die Welt ist klein. Weißt du, er ist mit einer Cousine meiner Frau verheiratet, und Sara ist die beste Frau auf der Welt. Wir sind zusammen aufgewachsen, ich weiß also, wovon ich spreche. Aber jetzt musst du mir mehr von deiner Familie erzählen. Ich will alles über die Familie Spinoza wissen, was es zu wissen gibt.«
Zu diesem Zeitpunkt glaubte mein Onkel, es sei ihm gelungen, seine Liebe zu Sara in einem tiefen schwarzen Loch in seinem Inneren zu begraben. Die Arbeit im Zirkus, die ihn mit so großer Freude erfüllte, hatte dazu beigetragen. Doch das Feuer, das in ihm gebrannt hatte, war nicht erloschen, und der Name Nathan Spinoza entfachte die Glut in ihm aufs Neue. Plötzlich fühlte er sich beinahe krank vor Sehnsucht nach Sara. Begrabene Erinnerungen wurden wie aus einem tiefen Schacht in ihm an die Oberfläche befördert. Er spürte ihren Atem an seinem Kopf und ihre linke Brust
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