Das Elixier der Unsterblichkeit
Freundschaften wurden mit den Fäusten zerschlagen.
Das Feuer zwischen den Sitzen im Zug war noch nicht erloschen, als in Ungarn schon der Ausnahmezustand erklärt wurde. Alle Paragraphen über Freiheit und Menschenrechte in der Verfassung wurden außer Kraft gesetzt. Dem Reichsverweser Admiral Horthy war nicht sonderlich daran gelegen, den Täter zu ergreifen, er hatte wichtigere Dinge zu bedenken. Es war offensichtlich, dass er in erster Linie unbequeme politische Widersacher ins Gefängnis bringen wollte.
Zwei Wochen später nahm die Polizei in Wien den Ungarn Szilveszter Matuska in seiner Wohnung fest. Ohne von Schuldgefühlen geplagt zu sein, gestand er das Attentat sowie fünf andere Anschläge auf Züge, die er in Deutschland verübt hatte. Er war sogar stolz auf seine Taten. Er wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Damit war die Sache erledigt, glaubten die meisten.
Doch dies war erst der Anfang. In den kommenden Wochen wurde in der konservativen ungarischen Presse eine lange Reihe flammender Artikel publiziert, die die Kommunisten der Tat bezichtigten. Bald wurden zwei führende jüdische Mitglieder der kommunistischen Partei verhaftet. Trotz wasserdichter Alibis wurden sie für das Attentat von Biatorbágy zum Tode verurteilt. Alle kannten die Wahrheit. In der liberalen Presse, im Parlament und in der Öffentlichkeit wurden Forderungen nach Freilassung der beiden Männer laut. In der ganzen Welt kam es zu starken Protesten. Nichts von alldem hinderte indessen Horthys Regime. Sándor Fürst und Imre Sallai wurden nach zwei Wochen durch den Strang hingerichtet.
EIN POLITISCHES BEWUSSTSEIN ERWACHT
Früh am Morgen des 15. Juli 1927 schalteten die Arbeiter des Wiener Elektrizitätswerks die Stromversorgung der Stadt ab. Es war das Signal für die Menschen, ihre Arbeitsplätze zu verlassen und zum Parlament zu ziehen. Ein paar Monate zuvor waren einige demonstrierende Sozialdemokraten von Mitgliedern einer rechtsgerichteten illegalen Bürgerwehr ermordet worden. Die Mörder waren von einem Gericht in Wien freigesprochen worden, obwohl sie gestanden hatten, das Feuer auf die Demonstranten eröffnet zu haben. Am Tag nach der Urteilsverkündung marschierten zehntausende von Arbeitern vor dem Parlament auf, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Sie wurden von berittener Polizei zurückgedrängt. Die Arbeiter bewaffneten sich mit Pflastersteinen und umstellten den Justizpalast, und binnen kurzem waren an die zweihunderttausend Menschen versammelt. Einige hatten Benzinkanister mitgebracht, und gegen Mittag begann der Justizpalast zu brennen. Feuerwehrautos waren schnell zur Stelle, wurden aber von den Volksmassen nicht durchgelassen. In dieser Lage beschloss der Polizeipräsident, sechshundert Polizisten mit Gewehren und Dumdum-Geschossen auszurüsten, um die Massen auseinanderzutreiben. Die Polizei schoss wild um sich. Männer und Frauen, Kinder und Alte, sogar vier Polizisten wurden niedergemäht. Insgesamt wurden neunundachtzig Personen getötet, und über tausend wurden verletzt. Die Ärzte in den Krankenhäusern berichteten den Journalisten, sie hätten nicht einmal während des Krieges vergleichbare Schussverletzungen gesehen.
Die Ereignisse vor dem Justizpalast erschütterten meinen Großonkel und veränderten seine Weltsicht. Er selbst nahm an den Demonstrationen nicht teil. Aber er konnte nicht umhin, die Zeitungsberichte über das blutige Geschehen zu lesen und die alsbald aufblühende Gerüchteflora zur Kenntnis zu nehmen. Er fand es empörend, dass ein Dutzend Polizisten mit Verdienstmedaillen ausgezeichnet wurden und dass die gesamte bürgerliche Presse sich hinter den Übergriff stellte. Im Parlament schob Bundeskanzler Ignaz Seipel die Schuld an dem Massaker ausschließlich den Sozialdemokraten zu. Mein Großonkel war überzeugt, dass nur ein böswilliger und verantwortungsloser Politiker mit derart ausgeklügelter Verlogenheit agieren konnte. Das stimmte ihn negativ gegenüber der christlich-demokratischen Regierung und dem Bürgertum, das Seipel und seine Clique gewählt und an die Macht gebracht hatte.
Einige Wochen später war der Fall der Anarchisten Sacco und Vanzetti in Charlestown, USA, die große Neuigkeit auf den Titelseiten der Zeitungen. Obwohl nachweislich unschuldig, waren die italienischen Einwanderer für einen bewaffneten Raubüberfall, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen, zum Tode verurteilt worden. Die Vollstreckung des Urteils wurde mehrere Male verschoben. Es kam
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