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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Dienstagabenden keine Gedichte mehr. Sie trugen jetzt hakenkreuzverzierte Armbinden und diskutierten Hitlers Ideen.
    Eines Abend wurde mein Onkel aus der Entfernung Zeuge, wie ein buckliger alter russischer Jude, der früher Stammgast in der Bierstube Waldvogel gewesen war, von drei uniformierten Nazis blutig getreten wurde. Er wagte nicht einzugreifen, aus Angst, selbst niedergeschlagen zu werden. Der Kampf gegen den Faschismus, sagte er, um sein Gewissen zu betäuben, zu sich selbst, muss mit anderen Mitteln geführt werden als mit Gewalt.
BEGEGNUNG MIT FREUD
    Als der Zirkus Jack in Konkurs gegangen war, bekam mein Großonkel Arbeit als Zauberer und Illusionist im Kabarett David Steinkeller.
    Eines Abends kam Sigmund Freud zur Vorstellung. Direktor Steinkeller nahm ihn am Eingang in Empfang, sie tauschten ein paar jüdische Witze aus und sprachen in aller Kürze über Robert Walser, den spröden Schriftsteller, der sich dem Lärm der Welt entzogen und freiwillig in eine Heilanstalt begeben hatte, wo er seine Tage damit verbrachte, Hülsenfruchtgewächse zu sortieren. Freud wurde an einen Tisch dicht an der Bühne gesetzt, bestellte einen kleinen Braunen, zündete eine Zigarre an und blies Rauchringe in die Luft. Nach Fernandos Nummer bat der Direktor den berühmten Psychoanalytiker auf die Bühne, um ein paar Worte über den Bedarf der Menschen an Illusionen zu sagen.
    Freud sprach mit majestätischer Liebenswürdigkeit. Er erzählte, er habe Fernando mit geschärfter Neugier betrachtet und dabei einige fruchtbare Beobachtungen gemacht, die er jedoch für sich zu behalten gedenke. Er gab zu, dass die Vorführung des versierten Zauberers ihm Vergnügen bereitet habe, und beeilte sich hinzuzufügen, dass es sich selbstverständlich insofern um einen unschuldigen Betrug handle, als Fernando allen vorgegaukelt habe, dass sie etwas sähen, was in Wirklichkeit nicht geschehen sei. Da unterbrach ihn jemand aus dem Publikum und fragte, ob Freud glaube, der Mensch verfüge über sogenannte übernatürliche Fähigkeiten. Dies verneinte der Seelenarzt entschieden und erklärte, Parapsychologie sei der reine Humbug. Danach sagte er ein paar tiefsinnige Sätze über unser fundamentales Bedürfnis nach Illusionen und unsere Fähigkeit zur Suggestion. Zum Schluss betonte er, wie wichtig es sei, seinen kritischen Verstand zu gebrauchen und sich nichts vormachen zu lassen, weder wenn es um das Spiel auf einer Bühne ginge, noch in der Gesellschaft allgemein. Er erhielt viel Applaus.
    Mein Großonkel war nicht im voraus über Freuds Besuch informiert gewesen und fühlte sich verletzt, weil seine Kunst als blauer Dunst abgetan wurde. Er meldete sich sofort zu Wort, bezeugte Freud zunächst seine Verehrung, indem er ihn als den Christoph Kolumbus des menschlichen Unbewussten bezeichnete, und schlug alsdann ein kleines Experiment vor, das die Existenz psychischer Kraft beweisen sollte. Er bat Freud, etwas auf ein Stück Papier zu schreiben und dies in die Brusttasche seines Jacketts zu stecken. Mein Großonkel behauptete, er könne mit Hilfe der Intuition herausfinden, was auf dem Zettel stehe.
    Freud fand Gefallen an dem Vorschlag; er nahm gern an einem unschuldigen Experiment teil. »Herr Fernando«, sagte er höflich. »Sie haben mich soeben einen Kolumbus genannt, aber ich sehe mich selbst eher als Konquistador. Ich besitze die Neugier, die Kühnheit und die Ausdauer eines solchen.«
    »Und die Rücksichtslosigkeit, lieber Doktor«, rief jemand aus dem Publikum und heimste ein ordentliches Gelächter ein.
    »Vielleicht die auch«, fuhr Freud fort. »Aber ich habe tiefer in die Menschenseele geschaut als irgendjemand sonst, und ich habe dort nie irgendwelche mystischen Kräfte entdecken können. Nehmen Sie es nicht persönlich, Herr Fernando, aber Sie sind nicht der erste Schwindler, den ich entlarve.«
    Er nahm einen Stift, schrieb etwas auf einen Zettel und steckte ihn in die Brusttasche seines Jacketts. Es war mucksmäuschenstill, als mein Großonkel sich dicht neben Freud stellte, die Augen schloss und sich theatralisch konzentrierte. Das erste, woran er dachte, waren kleine bunte Fische, die in dunkel erleuchteten Aquarien im Sprechzimmer des toten Phrenologen umherschwammen, der behauptet hatte, beim Vater der Psychoanalyse in der Berggasse 19 studiert zu haben.
    »Tancred Hauswolff«, stieß Fernando aus.
    Freud traute seinen Ohren nicht. »Das stimmt«, sagte er und holte den Zettel hervor, der dem Publikum gezeigt

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