Das Elixier der Unsterblichkeit
Lebens zu schildern, die speziellen Düfte einer Epoche, die Regungen im Herzen der Menschen, die Träume meiner Eltern, ihre Art zu leben, ihren Hochmut und Egoismus, ihre Talente und Schwächen, die Meinungen, die sie von sich gaben, die Anstrengungen, die sie unternahmen, um sich ihrer Umgebung anzupassen, ihre Hoffnung, akzeptiert zu werden und ihren Kindern ein Morgen schaffen zu können, das nicht in tausend Stücke zerschmettert werden konnte.
Dass ich so häufig zu meinem Großonkel zurückkehre, liegt daran, dass er es war – ein Mann, in dessen Adern nicht einmal unser Blut floss, der aber in meinen Augen die Inkarnation des Geschlechts der Spinozas darstellte –, der mich auf seine ebenso wunderliche wie unterhaltsame Weise all das lehrte, was ich über unsere Geschichte, unsere Traditionen und Gewohnheiten, unsere eitlen Erfolge, kläglichen Niederlagen und unbedeutenden Nichtigkeiten weiß. Er war es, der für uns die Geschichte und die Gegenwart, die Familie und das Judentum, den Kosmos und die Welt, die Geister und die Moral, den Untergang und die Liebe zum Leben in Einklang miteinander brachte. Er war es, der mich lehrte, an Mysterien zu glauben, daran, dass man mit den Geisterwelten in Verbindung treten kann, daran, dass die Geschichte mit ihrer Unveränderlichkeit und träumerischen Melancholie spannender ist als die moderne Welt mit ihrer immer schnelleren Bewegung. Er hatte eine einzigartige Gabe, die Spannung in seinen Anekdoten lebendig zu halten, das Unglaubliche glaubhaft und das Unfassbare fassbar zu machen, zu verblüffen und zu fesseln, zu amüsieren und zu beunruhigen, bedauerliche und traurige Begebenheiten mit fröhlichen und überraschenden zu vermischen.
Vor allem aber gelang es ihm, auf eine unterschwellige und etwas mysteriöse Weise, in meinem Herzen und dem meines Bruders Sasha einen Sinn für das Dasein zu verankern, die Gewissheit, dass das Schicksal (nicht Gott, denn Fernando glaubte nicht an solchen Unsinn) einen übergeordneten Plan mit der Menschheit verfolgte und dass unsere Familie darin eine Rolle spielte.
Was meinen Großonkel mit uns verband – das erkannte ich in meiner Kindheit nicht, sondern erst viel später –, war seine verzweifelte Liebe zu einer Frau. Sein ganzes Leben lang liebte er Sara, meine Großmutter, mit einer Leidenschaft, die an Wahnsinn grenzte. Um ihr nah sein zu können, schob er seine eigene Welt zur Seite und ersetzte sie durch die Familiengeschichte der Spinozas, in der sie durch eine unglückliche Ehe die unscheinbare Rolle einer Nebenfigur bekommen hatte.
FROMBICHLERS UNGLAUBLICHE GESCHICHTE
Frombichler saß an seinem angestammten Tisch. Er hatte noch nicht an seinem Bier genippt und sah aus wie verhext von dem Schaum. Offensichtlich merkte er nicht, dass mein Großonkel direkt ihm gegenüber Platz nahm. Er wartete darauf, dass sich die Blasen im Seidel auflösten, um zu sehen, wie viel Bier ihm eingeschenkt worden war.
»Drei Viertel«, konstatierte er unzufrieden. »Schwindel«, murmelte er, »Schwindel mit all diesem Schaum. Wien ist durchsetzt von Falschheit, Lügen und Betrug. Man bekommt nicht einmal mehr ein volles Seidel Bier in dieser Stadt.«
Den Worten folgte Schweigen. Mein Großonkel dachte: So ein Quatsch, so ein Quatsch, und genau in dem Moment, als er ihm widersprechen wollte, kam ihm Frombichler zuvor.
»Ich werde dir etwas sagen, Fernando, selbstverständlich unter dem Mantel der Verschwiegenheit, aber es ist dennoch die verdammte Wahrheit.«
Er leerte das Seidel in einem Zug und rülpste laut. Mein Großonkel seufzte peinlich berührt und lächelte in sich hinein.
»Du wirst vielleicht glauben, dies sei eine Räuberpistole«, fuhr Frombichler fort und betrachtete den Freund mit ernster Miene, »aber ich schwöre beim Namen meiner Großmutter selig, dass jedes Wort wahr ist. Ich brauche dir wohl kaum zu erklären, dass die Wirklichkeit die Phantasie übertrifft.«
Langsam begann er, die Geschichte von Salman de Espinosa aufzurollen.
Die Gestalten aus Frombichlers Familiengeschichte waren meinem Großonkel bald ebenso bekannt wie die Menschen, mit denen er beim Zirkus Jack zusammenarbeitete, und die Erzählungen über ihre seltsamen Lebenswege weckten immer die gleiche selbstverständliche Neugier in ihm. Er freute sich über jeden neuen Spinoza, der aus dem Dunkel des Mittelalters auftauchte. Die Stunden mit Frombichler waren wie ein Besuch in einem Theater, wo farbenfrohe Gestalten aus ganz Europa auf der Bühne
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