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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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jedermann klar sei, wisse, was ihn erwarte. Er ziehe es deshalb vor, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er zog seinen besten Anzug an, band sich sorgfältig den Schlips und seufzte tief – ihm fehlten das Lachen und die Tränen freier, furchtloser Menschen, wenn sie Fernandos Monologen zuhörten. Dann ging er auf den Dachboden und erhängte sich.
    Jemand schlug an die Haustür. Mein Großonkel saß am Küchentisch neben dem Fenster und schrieb. Er ahnte, wer es war, und ging zur Tür, um zu öffnen. Fünf Männer in schwarzen Ledermänteln standen da. Ihr Anführer brüllte: »Gestapo.«
    »Franz Scharf«, antwortete mein Großonkel und sah die Männer herausfordernd an. »Und Sie, meine Herren, die Sie sich nicht vorstellen? Wie heißen Sie? Und was verkaufen Sie, wenn ich fragen darf?«
    »Geheime Staatspolizei«, verdeutlichte der Anführer. »Wir sind hier, um den Juden Scharf zu verhaften. Wir haben auch einen Hausdurchsuchungsbefehl und suchen nach Büchern und Papieren antinationalsozialistischen Inhalts.«
    »Antinationalsozialistisch«, wiederholte Fernando. »Alles in diesem Haus ist antinationalsozialistisch, sogar das Toilettenpapier, das ich benutze, um mir das ARSCHLOCH abzuwischen.«
    In der nächsten Sekunde wurde er von einem harten Faustschlag ans Kinn getroffen und verlor das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, war er auf dem Weg nach Dachau.

5.
DER WANDERER

ÜBER DAS SCHREIBEN UND FERNANDO
    Wenn ich lese, was ich bis hierher geschrieben habe, bin ich ein wenig beschämt über den Mangel an Chronologie. Doch ich tröste mich damit, dass eine Erzählung wie diese nicht die gleiche Stringenz und Genauigkeit erfordert wie eine wissenschaftliche Arbeit.
    Ich schreibe über die Geschichte der Familie Spinoza. Meine Mutter bat mich auf dem Totenbett, der Welt von dem abgesonderten Universum zu erzählen, das unsere Heimstatt auf Erden war. Ich sehe noch immer ihr weißes Gesicht vor mir, das ungekämmte Haar, das wirr auf der Stirn lag, und ihren glänzenden Blick, der an mir vorbeiwanderte und an einem unsichtbaren Ort an der Decke festfror. Ihre Atemzüge verebbten, bis Stille den Raum erfüllte, und ich empfand die starke Verpflichtung, eines Tages ihren letzten Wunsch zu erfüllen.
    Mutter starb in ihrem achtundsechzigsten Lebensjahr, im November 1989, und es vergingen fast zehn Jahre, bis ich mich ans Werk machte. Schon der Gedanke daran, allein in einem Zimmer zu sitzen und eine Woche oder einen Monat lang zu schreiben, war für mich, der ich mich immer nach einem anderen Ort sehnte, nicht auszuhalten. Auch ist es mir schon mein Leben lang schwergefallen, mich schriftlich auszudrücken. Nur mit größter Mühe habe ich meine Gedanken auf dem Papier in Worte kleiden können.
    Erst als mir klar wurde, dass ich bald sterben würde, erkannte ich – als der letzte Spinoza –, dass nur ich es war, der sich noch an die Erzählungen meines Großonkels über unsere Familie erinnern konnte, aus Zeiten, in die meine Kindheit nicht zurückreichte; dass ich der einzige war, der sich an Großmutters und Großvaters bittere, wenn auch unterhaltsame Streitereien erinnern konnte, dass ich der einzige war, der sich daran erinnern konnte, was an dem Tag geschah, als mein Zwillingsbruder Sasha starb. Erst als mich die Erkenntnis traf, dass die große Niederlage meines Lebens nicht darin bestand, dass ich aus dem Leben gerissen würde, sondern darin, dass alle, die vor mir gelebt haben, im Vergessen versinken würden, erst da bekamen die mir vom Leben noch verbleibenden Tage einen Sinn, und ich begann, Zeugnis abzulegen über frühere Generationen.
    Ich nähre die Hoffnung, dass die Menschen, deren Schicksal ich in der Kindheit kennenlernte, durch das Schreiben wieder zum Leben erweckt und für den Leser ebenso präsent werden, wie sie es für uns waren, als mein Großonkel meinem Zwillingsbruder Sasha und mir von ihnen erzählte. Deshalb nutze ich meine wachen Momente und versuche, von den verstrichenen Jahrhunderten zu berichten, die Farbe und den Geschmack eines Zeitalters hervorzuholen, zu schildern, wie die Turbulenzen des Schicksals meine Vorfahren mitgerissen haben, zu zeigen, wie die dunklen Mechanismen des Alltags ihr Denken matt gemacht und ihr Leben und ihre Gefühle in Wallung gebracht haben. Ich merke allerdings, dass es mir nur selten gelingt, mehr als oberflächliche Anekdoten wiederzugeben. Denn wie ich es auch angehe, fällt es mir doch schwer, die flüchtigen Details des alltäglichen

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