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Das Ende aller Tage

Das Ende aller Tage

Titel: Das Ende aller Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian W. Aldiss
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Pythonschlange entrollte sich und begann sich in den Hof herunterzulassen. An der Wand schien das Ding sich wie Teig auszubreiten, aber die Blätter des Affenbrotbaums machten es schwierig, das Geschehen zu verfolgen. Jetzt sah es aus, als glitte ein gummiartiger Vorhang an der Mauer abwärts.
    Was immer das Ding sein mochte, es schob eine Art Fangarm vor und schlug ihn dem nichtsahnenden Wächter übers Gesicht. Dann folgte es mit dem Rest seiner Masse und begrub den hilflos Zappelnden unter sich. Cheddi schrie und brüllte in seiner Zelle, aber niemand antwortete, niemand kümmerte sich um ihn; die dienstfreien Beamten waren bei ihren Frauen in der Stadt.
    Als das Ding den Wächter freigab, lag nur noch eine schlaffe Hülle aus Haut und Kleidern plattgedrückt und leer auf der Steinbank. Der heiße Wind spielte mit dem Schnurrbart. Das Ding bekam Finger und schnallte geschickt den Schlüsselring vom Gürtel des Toten. Dann löste sich ein Teil von der Hauptmasse und eilte mit den Schlüsseln über den Hof, während der restliche Körper im Schatten blieb. Das schlüsseltragende Ding sah wie ein lebendig gewordener Hocker aus.
    »Mein Gott!« hauchte Cheddi. »Es kommt hierher!«
    Als er vom Zellenfenster zur Tür zurückwich, war das Ding schon mit einem Satz auf dem Sims und glitt durch die Gitterstäbe. Es ließ den Schlüsselbund fallen und sprang hinterher.
    Cheddi stand wie versteinert. Seine entsetzt aufgerissenen Augen sahen, wie das Ding sich in die Länge zog, menschliche Formen annahm und schließlich zu Gerund wurde – oder besser, zu einer unerträglichen Karikatur von ihm.
    Gerund streckte eine Hand aus und berührte seinen Diener behutsam, als wäre es ein Experiment.
    »Es ist alles in Ordnung, Cheddi«, sagte er. Das Sprechen machte ihm deutlich Mühe. »Du hast nichts zu fürchten. Es wird dir nichts geschehen. Nimm diese Schlüssel, sperr deine Tür auf und komm mit mir zum Gefängnisdirektor.«
    Grau im Gesicht, am ganzen Körper zitternd, war Cheddi zunächst unfähig, Arme oder Beine zu rühren. Dann gelang es ihm, mehr aus Furcht als aus innerer Kraft, sich zusammenzureißen und dem Befehl zu folgen. Den rasselnden Schlüsselbund in der Hand wankte er zur Zellentür und probierte mit flatternden Fingern einen Schlüssel nach dem anderen, bis er den passenden gefunden hatte. Wie ein Mesmerisierter wandelte er steif in den Korridor hinaus, dicht hinter sich den Pseudo-Gerund.
    Niemand war in der Nähe. Im Treppenhaus schlief ein Wächter auf seinem zurückgekippten Stuhl, die Füße an der weißgekalkten Wand. Er wurde nicht wach. Cheddi schloß die Tür zum Bürotrakt auf, und sie erstiegen die Treppe zum Zimmer des Direktors. Offene Türen wiesen ihnen den Weg zu einer Veranda, von der man einen prächtigen Blick über die Bucht und die Berge der Insel genoß.
    Auf der Veranda saß der Gefängnisdirektor in seinem Sessel aus spanischem Rohr und trank Rotwein. Er war klein und sah unendlich müde aus.
    »Sind Sie der Direktor?« fragte Gerund.
    »Der bin ich«, sagte ich.
    Er sah mich lange an, und nun erkannte ich, daß er kein – wie soll ich es sagen? – gewöhnlicher Mann war. Er sah genau wie das aus, was er war: die Fälschung eines menschlichen Wesens. Trotzdem erkannte ich ihn als den Gerund Gyres, nach dem die Polizei fahndete; ich hatte die Fotografien gesehen.
    »Wollen Sie sich nicht beide setzen?« sagte ich. »Es ermüdet mich, Sie so herumstehen zu sehen.«
    Weder der Herr noch der Diener rührten sich.
    »Warum und wie haben Sie Ihren Diener befreit?« fragte ich.
    »Ich habe ihn vor Sie gebracht«, sagte Gerund, »damit Sie hören, was ich zu sagen habe, und damit Sie wissen, daß Chaddi ein guter Diener ist, der mir nie etwas zuleide getan hat. Ich möchte, daß er sofort auf freien Fuß gesetzt wird.«
    Dies war also eine vernünftige Kreatur, die mitleidiger Regungen fähig war. Viele Menschen, mit denen ich mich herumschlagen muß, haben weder Vernunft noch Mitleid.
    »Ich bin bereit, Sie anzuhören«, sagte ich, mein Glas auffüllend. »Wie Sie sehen, habe ich sonst wenig zu tun. Zuhören kann sogar angenehmer sein als Reden.«
    Worauf Gerund mir alles das zu erzählen begann, was ich hier nach bestem Vermögen niedergeschrieben habe. Cheddi und ich hörten schweigend zu. Der Diener schien wenig davon zu verstehen, aber ich begriff genug, daß mir abwechselnd heiß und kalt wurde. Hatte ich nicht ein Exemplar von Pamliras Arbeit über Paraevolution auf meinem

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