Das Ende - Alten, S: Ende
nördlichen Begrenzung des Reservoirs löste. Das Wasser war dunkel und trüb, wenn auch merklich wärmer als die kalte Nachtluft, und dieser Temperaturunterschied war verantwortlich dafür, dass die dichte Nebelwand entstanden war.
Nach und nach waren der Rand des Beckens und der nächtliche Himmel immer weniger zu sehen, bis sie schließlich ganz verschwanden.
Paolo ruderte eifrig weiter, doch schnell hatte er die Orientierung verloren. »Das ist nicht gut. Es könnte sein, dass ich euch endlos im Kreis herumführe.«
Virgil hob die Hand. »Still.«
Irgendwo in der Ferne war eine jubelnde Menge zu hören.
»Halt immer auf das Geräusch zu, Paolo. Es wird dich zum Südende des Reservoirs führen.«
Paolo änderte den Kurs und ruderte weiter. Das ans Boot schlagende Wasser war in der Dezemberluft deutlich zu hören, während der Nebel mit jedem Eintauchen des Ruders dichter wurde.
Der Geruch traf sie zuerst. Es war ein fauliger Gestank wie aus einem offenen Abwasserkanal.
Der Bug stieß gegen einen unsichtbaren Gegenstand. Und dann gegen noch einen.
Abrupt zog Paolo das Ruder zurück. Er nahm Francesca die Lampe ab und versuchte noch einmal, den Docht anzuzünden. Beim dritten Versuch hatte er Erfolg. Er streckte die Lampe über den Rand des Bootes, und das von Nebelschleiern umhüllte Licht zeigte ihm, was sich unter der Wasseroberfläche befand. »Heilige Mutter Gottes.«
Es waren Tausende, die als menschliches Treibgut im Wasser schwebten. Einige trieben mit dem Gesicht nach unten zwischen den flachen Wellen, doch bei den meisten war das Gesicht nach oben gerichtet. Im Tod waren ihre rot geränderten Augen weit aus den Höhlen getreten, ihr von Flecken überzogenes Fleisch war aufgebläht und fahl. An ihren Hälsen hingen purpurfarben-schwarze Beulen von der Größe einer Grapefruit, die das Wasser noch mehr hatte anschwellen lassen. Männer und Frauen, Alte und Junge – die kalten Fluten und die Pest hatten gemeinsam dazu beigetragen, ihre ethnische Herkunft zu verwischen. Ihre Position im Reservoir wurde von ihrer körperlichen Verfassung bestimmt. Die Übergewichtigen unter ihnen trieben an der Oberfläche des künstlichen Sees. Die Dünnen und Muskulösen, die nicht genügend Auftrieb besaßen, schwebten wie die Säuglinge und Kinder durch die mittleren und größeren Tiefen.
Paolo bedeckte den Mund seiner Frau mit der Hand, bevor diese schreien konnte. »Schließ die Augen. Sieh nicht hin. Wenn du schreist, finden uns die Soldaten.«
Virgil wischte sich die kalten Tränen aus dem Gesicht. »Paolo, mach die Lampe aus. Benutz das Ruder … und bring uns über diesen Fluss des Todes.«
»Der Fluss des Todes … Styx.« Die Worte aus der Göttlichen Komödie brachen eine weitere versiegelte Kammer in Sheps Gedächtnis auf, deren Inhalt Dantes höllische Verse vor ihm ausbreiteten: Wir kamen schweigend bis zu einem Bächlein, / das aus dem Wald hervorspringt, ach, so rot, / daß mich noch heut sein’ Farbe schaudern macht. (…) / Es läuft durch alles – nur das Gold ist ganz – / ein Riß, und aus dem Risse triefen Tränen, / die sammeln sich und fressen durch den Berg / sich durch und stürzen nieder in die Hölle / als Acheron, als Styx und Phlegethon.
Sheps Augen wurden immer größer, als die durch den Impfstoff bewirkte Halluzination seinen Geist überwältigte. Die im Wasser treibenden Leichen begannen, um ihn zu kreisen …
… und plötzlich sind die Toten von Leben erfüllt!
Glieder zucken. Blind tasten die Hände im Wasser um sich, und einer reißt dem anderen die Kleider vom Leib. Die erwachenden Toten werden immer unruhiger, sie packen ihren Nebenmann bei den Haaren und verkrallen sich in seinen Augen. Einigen der weiter oben treibenden Leichen gelingt es tatsächlich, ihre entsetzlichen Köpfe aus dem eisigen Wasser zu heben und ihre gebleckten gelben Zähne in das verwesende Fleisch anderer Pestopfer zu treiben, als seien sie Zombies.
Während Shep von Grauen erfüllt zusieht, flammen irgendwo in den Tiefen des Nebels bizarre, bläulich-weiße Blitze auf. Jeder einzelne von ihnen enthüllt wie ein Stroboskoplicht für einen kurzen Augenblick noch mehr Pestopfer – eine Unterwasserarmee von Toten, die sich nach oben kämpft. Plötzlich bemerkt Shep, dass er auf ein Meer von Gesichtern hinaussieht – irakische Gesichter, die ihn allesamt anstarren und stumm ihr Urteil über ihn sprechen. Ihr Schweigen ist ohrenbetäubend.
»Ignorieren Sie sie, Shepherd. Das sind nichts als
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