Das Ende Der Ausreden
es (zu früh) fragen »Darf ich?«. Wird ein Kind ermutigt, seinen Empfindungen zu trauen und nachzugeben oder wird es mit »Stell dich nicht so an!« ermahnt? Unterstellt man gar einem Kind, es wäre »extra« zornig, um Mama traurig zu machen, oder einem besonders sensiblen, von Reizen schneller als andere überforderten kleinen Mädchen, es sei »zickig«?
Phase 3: Wir verlernen, unsere Gefühle zutreffend wahrzunehmen und auszudrücken
Wenn man Gefühle als wichtige Informationsquelle und eines unserer Intelligenzzentren betrachtet, dann werden viele Kinder leider oft früh dumm gemacht. Man bringt ihnen bei, weg- statt hinzuhören, man drängt ihnen Interpretationen und Bewertungen auf, statt sie zu bestärken, ihren inneren Impulsen zu trauen.
Sobald dieser Prozess einsetzt, in dem der unbefangene Umgang mit den Grundgefühlen endet, bieten unsere Empfindungen keine klare Orientierung mehr. Wir werden unsicher, was wir eigentlich genau spüren und wollen, wir fragen uns stattdessen, was von uns erwartet wird. Und so wird auch das, was wir an Gefühlen zeigen und äußern, entsprechend unklarer, mehrdeutiger. Wut könnte auch auf Angst hindeuten, Trauer im Kern eigentlich Zorn sein. Jetzt wird das Dechiffrieren schwierig. Der Kontakt zu unseren ursprünglichen Gefühlen reißt immer mehr ab.
Es ist (glücklicherweise!) nicht so, dass unsere Grundgefühle nicht mehr da wären; aber sie werden zunehmend undeutlicher, es braucht einen stärkeren Anlass oder mehr innere Not, dass sie wieder hervorkommen dürfen. Wir pflegen die Beziehung zu ihnen nicht, es ist wie mit Freunden, die man irgendwie aus den Augen verloren hat. Irgendwo da drin wohnen sie, klar, aber wann habe ich das letzte Mal vor Freude getanzt, wann ohne Scham und Scheu geschluchzt? Viele Erwachsene weinen nur noch im Kino: an den Stellen, wo der Regisseur Rührung vorgesehen hat. Oder als Fan, wenn der Verein verliert. Der Sport ist ein Tummelplatz für Grundgefühle, wie gut, dass da hemmungslos gefeiert, umarmt, gewütet, gefreut und gezittert werden kann!
Phase 4: Wir lernen Ersatzgefühle
Immer öfter zeigen wir eine Art Ersatzgefühle, sogenannte »gelernte Gefühle«: Wir sind beleidigt, verletzt, gekränkt, wir fühlen uns ungerecht behandelt, hilflos, empört, trotzig, frustriert und so fort. Diese erworbenen Gefühle sind nicht mehr pur, sie sind gemischt, geschüttelt und oft verdreht. Sie sind verschlüsselt, schwer zu lesen.
Ersatzgefühle lernen wir, weil wir merken, dass wir oft schlechtere Karten haben, wenn wir ehrlich sind und offen zeigen und sagen, was wir wollen und wie es uns geht. Wir erfahren, dass es klüger ist, zu warten, zu beobachten, ob es gerade passt, nur vorsichtige Signale zu geben, mit anderen Worten: uns anzupassen. Und dass es dann wenigstens halbwegs in die richtige Richtung geht. Wir orientieren uns nicht mehr an unserem Inneren, sondern an den anderen. So fängt das kommunikative Theater an, das uns im Verlauf der nächsten Jahrzehnte so viel Lebensqualität kosten wird.
Dafür ist aber die Haltbarkeit eines gelernten Gefühls immens. Wenn ein Kind sich wehgetan hat, seinen Schmerz ausdrückt und getröstet wurde, dann ist der Kummer in zwei Minuten vergessen. Wenn es aber den Schmerz unterdrückt, entstehen Groll und Einsamkeit. Wenn jemand beleidigt ist, dann kann er das Jahre bleiben, mit wenigen Stichworten kann man dieses Gefühl beliebig neu auslösen.
Phase 5: Wir reden uns mit unseren gelernten Gefühlen aus der Verantwortung heraus
Die Ersatzgefühle machen uns passiv, gleichzeitig füllen sie uns mit dem Gefühl, im Recht zu sein. Die Tendenz, uns dieser Art von Empfindungen zu überlassen, nehmen wir mit ins weitere Leben. Sie wird uns in vielen Situationen davon abhalten, aktiv zu werden, für uns selbst einzustehen, Verantwortung zu übernehmen, zu handeln statt zu leiden.
Eine wichtige Aufgabe unseres erwachsenen Lebens besteht darin, dass wir uns von diesen Gefühlen emanzipieren. Und: dass wir uns mit ihnen nicht aus der Verantwortung herausreden. Denn genau das tun wir, wenn wir Probleme schildern. Wir nehmen diese Empfindungen und zeigen sie als Beweis dafür vor, dass wir im Recht sind.
Ein erwachsener Umgang mit den gelernten Gefühlen ist nicht sehr verbreitet. Er würde bedeuten, diese sekundären Emotionen zwar wahrzunehmen, aber nicht dabei stehen zu bleiben. Es ist eine der größten Ausreden, die wir verwenden, dass wir unseren Gefühlen ausgeliefert seien. Das sind wir
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