Das Ende Der Ausreden
gestreichelt werden, wie sie gesehen, angesehen und wahrgenommen werden, und wie der Klang ist, den sie hören, wenn man mit ihnen spricht.
So entwickelt ein Kind seine Vorstellung davon, was für eine Art Menschenkind es ist und wie die Qualität der Beziehung, in der es aufgehoben ist, einzuschätzen ist. Letzteres ist eine Existenzfrage. Denn Kinder können nur überleben, wenn für sie gesorgt wird. Von dieser existenziellen Abhängigkeit »weiß« ein Kind mit jeder Pore seines Körpers, lange, bevor es das mit dem Verstand erfassen könnte. Und so ist die Frage nach der liebevollen Zugewandtheit der Beziehung elementar und geht allem anderen vor. So muss man sich nicht wundern, dass unser ganzes restliches Leben lang der Beziehungsaspekt von Kommunikation (Wie stehen wir zueinander?) immer wichtiger als das, was jemand inhaltlich sagt (Worüber spricht er?). Zuvorderst prüfe ich stets: Wie sieht der andere mich an, wie interessiert er sich für mich und wie spricht er mit mir.
Die Grundgefühle, die alle Kinder gemeinsam haben, sind Freude, Trauer, Zorn und Angst. Diese vier Grundgefühle sind die Grundstoffe unseres Gefühlslebens und sie sind pur, noch nicht gemischt. Freude ist schiere Freude, Zorn ist nichts als Zorn, Angst fühlt sich nur nach Angst an, Schmerz ist Schmerz. Wenn die Gefühle ausgedrückt und in passender Weise beantwortet wurden, dann gehen sie wieder und machen Platz für neue Empfindungen. Das Erleben der Gegenwart spiegelt sich im raschen Wechsel der Gefühle eines Kindes, das lacht und weint und schreit und lacht und staunt und wieder von vorn.
Diese ursprünglichen Gefühle stehen in enger Verbindung mit den Grundbedürfnissen: Bin ich satt und ist mir warm – das ist Freude; bin ich allein, und es ist dunkel – das ist Angst; versuche ich etwas, und es gelingt nicht – das ist Zorn; und tut mir etwas weh, wird mir etwas weggenommen, bleibt ein Bedürfnis unerfüllt – das ist Trauer.
Kleine Kinder drücken diese Gefühle unmittelbar und ohne Umwege aus. Sie überlegen nicht, ob sie sich etwas vergeben: Wenn sie traurig sind, weinen sie. Sie haben auch noch keine Hemmung, dass es vielleicht uncool sei, Angst zu haben. Wenn sie sich ängstigen, suchen sie Hilfe. Dass das so ist, ist wunderbar, denn so geben Kinder jederzeit Auskunft über den Stand ihrer Bedürfnisse und ihren Bezugspersonen damit die Chance, auf sie einzugehen.
Die Äußerung der Grundgefühle ist ein ganz wesentlicher Teil des Ankommens in der Welt, der Zwiesprache mit den anderen, der Verständigung und Beziehung. Kinder entscheiden sich nicht, ihre Gefühle zu zeigen, sie tun es. Spontan, unverstellt, jetzt. Und dadurch überleben sie – das sollten wir nie vergessen, wenn wir über Gefühle nachdenken.
Phase 2: Wir lernen, unsere Gefühle zu kontrollieren
Im Lauf der Zeit lernen Kinder allerdings, dass der freie Gefühlsausdruck manchmal weniger gute Konsequenzen zeitigt; und sie lernen, welche Gefühle eher gut ankommen als andere. So erstaunlich es auch sein mag, Untersuchungen der letzten Jahre haben erwiesen, dass dreißig Jahre Emanzipation an der Erziehung beinahe spurlos vorübergezogen sind: Noch immer lernen Mädchen, dass Freude, Trauer und Angst in Ordnung sind, Zorn aber weniger; und Jungs lernen, dass Freude und Zorn akzeptiert sind, Angst und Trauer, weil unmännlich, eher schwierig.
Das hat enorme Konsequenzen. Mädchen wie Buben beginnen nach und nach vorsichtig zu werden im direkten Ausdruck ihrer Empfindungen, sie verschieben manche Gefühle auf andere, und sie erwerben sogenannte sekundäre oder gelernte Gefühle. Jungen hören sukzessive auf, unbefangen zu weinen und ängstlich zu sein. Sie werden stattdessen zum Beispiel wütend. Kleine Mädchen hören etwa »Jetzt bist du aber ganz hässlich!«, wenn sie vor Zorn sprühen, und lassen es irgendwann bleiben. Und werden dann vielleicht eher traurig. Damit werden die Grundlagen für viele Missverständnisse zwischen Männern und Frauen gelegt.
Davon abgesehen, erlebt jedes Kind in seiner Familie eine ganz individuelle Sozialisation in Sachen Gefühle. Wie gehen die Eltern mit ihren eigenen Emotionen um, wie mit denen des Partners? Können sie die Empfindungen ihrer Kinder zutreffend deuten und verstehen? Dürfen Gefühle gezeigt und besprochen werden? Oder erschrecken oder ärgern sich die Eltern, weil das Kind Gefühle offenlegt, die sie sich selbst schon längst verboten haben? Kann ein Kind frei äußern, was es will, oder muss
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